Zeitschrift für Sozialismus und Frieden 12/03

Herausgeber: Verein zur Förderung demokratischer Publizistik (e.V.)

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Stalins Beiträge

zur marxistisch-leninistischen Militärtheorie und Militärpolitik

1918 – 1940

Teil 1 und Teil 2

Von Ulrich Huar

 

  Redaktionsnotiz

Militärtheorie und Militärpolitik Teil 1

Teil 1: Stalin als Militär im Bürger- und Interventionskrieg 1918 - 1920

  1.1. Theoretische Voraussetzungen

  1.2. Erste Erfahrungen und Erkenntnisse

Militärtheorie und Militärpolitik Teil 2

Teil 2: „Die Atempause" 1920 - 1940

2.1. Über die internationale Situation in den 20er und 30er Jahren

  2.1.1. Das Versailler System und der Rapallovertrag

  2.1.2. Der Dawesplan

  2.1.3. Das Janusgesicht der Ostpolitik des deutschen Imperialismus

  2.1.4. Über die Gefahr eines konterrevolutionären Krieges gegen die UdSSR

  2.1.5. Die Unvermeidlichkeit eines neuen imperialistischen Krieges

  2.1.6. „Imperialistischer Pazifismus"

  2.1.7. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt

  2.1.8. Imperialistische Kriege in den 30er Jahren

  2.1.9. Die Friedenspolitik der UdSSR

2.2. Die Vorbereitung auf den Krieg

  2.2.1. Materiell-technische Vorbereitung

  2.2.2. Die „Enthauptung" der Roten Armee - Wahrheit und Legende

  Anmerkungen (Quellennachweise) zu Teil 1

  Anmerkungen (Quellennachweise) zu Teil 2

  Anhang: Vereinigtes Plenum des ZK und der ZKK der KPDSU (B), 29.7. – 9.8.1927


 

Redaktionsnotiz

„Und dann noch diese Stalin-Hefte!" – „Diese Sachen über Stalin, das könnt doch gar nicht Ihr sein!" – „Altstalinistische Sauereien..." – „Meint Ihr das wirlich ernst?" - „Mit Stalin begann die Konterrevolution in der Sowjetunion!" – „Schickt mir bloß keine Hefte mehr, in denen Stalin verherrlicht wird!" - „Ich werde keine Hefte mehr von Ihnen annehmen!"

Tja, so sind sie, die Genossinnen und Genossen.

Was soll man dazu sagen? (Variante 1) Man sollte ihnen vielleicht sagen: Wir spüren in dieser Frage ungemein heftige Emotionen. In Eurem Fall einen sehr großen Hass. Wir hätten Euch einen solchen Hass wirklich nicht zugetraut.

Was soll man dazu sagen? (Variante 2) Man sollte sie fragen: Warum dieser Hass? Was hat Stalin Euch getan? Erklärt uns und anderen das doch bitte etwas konkreter. („Stalinistische Sauereien" ist als Meinungsäußerung doch etwas pauschal und bringt wenig diskutierbare Argumente).

Was soll man dazu sagen? (Variante 3) Vielleicht sollte man ihnen auch sagen, dass die Zeit für Scheuklappen und Vorurteile angesichts der Lage, in die uns der Imperialismus inzwischen gebracht hat, tatsächlich vorbei ist. Kuschelige Schonwaschgänge hat das Kapital nicht mehr nötig – und wenn nicht in absehbarer Zeit harte Klassenkämpfe die Kriegsvorbereitungen und die sozialen Kahlschläge einschränken bzw. beenden, dann steht uns eine erneute Phase der kapitalistischen Barbarei ins Haus, ähnlich wie - wahrscheinlich aber schlimmer als - im letzten Jahrhundert. Dashalb müssen wir uns beim Klassengegener auch für nichts entschuldigen, wir müssen weder abschwören noch Sauberkeit und/oder Harmlosigkeit demonstrieren, - ganz im Gegenteil, wir müssen uns auf die Bildung von Gegenmacht konzentrieren. Gegenmacht. Sehr richtig, in dem Wort steckt der Begriff „Macht".

Was soll man dazu sagen? (Variante 4) Vielleicht abschließend noch den Satz: Wer Besseres weiß, schreibe es auf!

Der Blick in die Geschichte des Sozialismus ist eine heikle Sache, natürlich wissen wir das. Ulrich Huar hat uns gegenüber für seine Arbeit eine sehr schöne Maxime genannt: „Das alles hat sowieso keiner alleine gemacht, das waren immer kollektive Arbeitsprozesse. Deshalb nenne ich die Hefte auch immer `Stalins Beitrag zu...´, denn man soll ihn nicht auf einen Sockel stellen, aber eben auch nicht verteufeln. Eine vernünftige historische Einordnung ist das, was wir brauchen." So soll es sein. Wir erheben selbstverständlich nicht den Anspruch, diese „vernünftige historische Einordnung" hier getroffen zu haben. Wir wollen uns nur um eine solche bemühen. Deshalb heißt es ja so schön: „Beitrag zu...".

Zu diesem Heft: Es geht um Militärisches. Lenin wird was Wort zugeschrieben: „Die Kommunisten haben die Gewalt nicht erfunden, sondern vorgefunden", womit er zweifellos Recht hat. Ebenso halten wir die Einsicht, dass eine Revolution, die sich nicht verteidigen kann, nichts wert sei, für vollkommen richtig. Deshalb muss sich der Sozialismus zunächst – bevor in der höheren Phase des Kommunismus hoffentlich alles kriegerische Militär überflüssig wird – auch mit Militärischem befassen. Man stelle sich das letzte Jahrhundert ohne die Existenz der Roten Armee vor! (Dann weiß man auch, was uns noch alles bevorsteht, wenn wir nicht bald wieder eine kriegen.)

Wir setzen die Reihe von Ulrich Huar zur Darstellung der Beiträge Stalins zum Aufbau des Sozialismus und zur marxistisch-leninistischen Theoriebildung hiermit fort. Zur Erinnerung seien hier noch einmal kurz die Arbeitsmaximen wiederholt, die Ulrich Huar im ersten Heft der Reihe darlegte. Er schrieb: Für die Darstellung boten sich zwei Herangehensweisen an: Einmal die chronologische, die den Vorteil hat, die Theorie in allen ihren Bestandteilen im Zusammenhang darstellen zu können innerhalb der Zeitperiode, in der sie verfasst wurde. Die zweite Methode war die Theorie nach ihren Bestandteilen - Parteitheorie (Theorie der nationalen Frage, Politische Ökonomie des Sozialismus, Militärtheorie, Staats- und Revolutionstheorie) darzustellen. Der Vorteil dieser Methode bestand darin, die einzelnen Teiltheorien gründlicher darstellen zu können, innerhalb dieser die Kontinuität von Marx/Engels - Lenin - Stalin, sowie die Erkenntnisfortschritte im Denken Stalins selbst deutlicher herausarbeiten zu können. Auch bei dieser Methode war innerhalb der Bestandteile dann chronologisch zu verfahren. Da mir die zweite Methode gegenüber der ersten günstiger erschien, habe ich mich für diese entschieden, wobei ich die Nachteile, den Zusammenhang mit den anderen Bestandteilen der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus vernachlässigen zu müssen, in Kauf genommen habe.

 

Für die Arbeit der elektronischen Texterfassung und Korrektur danken wir den Genossinnen und Genossen der „Schriftenreihe der KPD" sehr herzlich. Wie schon die vorherigen Hefte dieser Reihe erscheint auch dieses jetzt vorliegende gleichzeitig hier und bei der KPD.

 

Die Zeitschrift Offensiv finanziert sich allein durch Spenden. Wir sind inzwischen in diesem Jahr 2003 fast bis an die Grenze des finanziell Machbaren gegangen. Trotzdem wollen wir nicht nachlassen, ganz im Gegenteil, wir haben noch einiges Interessantes vor – u.a. die Fortsetzung des Themas dieses Heftes für die Zeit des Großen Vaterländischen Krieges und für die Nachkriegszeit (oder auch: die Zeit des Kalten Krieges). Deshalb bitten wir weiterhin und eindringlich um Spenden - wirklich eindringlich, denn die Finanzen sind inzwischen wirklich sehr knapp!

 

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Redaktion Offensiv, Hannover

Militärtheorie und Militärpolitik Teil 1

Teil 1: Stalin als Militär im Bürger- und Interventionskrieg 1918 - 1920

1.1. Theoretische Voraussetzungen

Historische Betrachtungen über Stalin als Militärtheoretiker oder als Feldherr, was nicht ein und dasselbe ist, werden meistens im Zusammenhang mit dem Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion angestellt. Dies ist insofern verständlich, als der Große Vaterländische Krieg bezüglich seiner Intensität, Bewaffnung, Truppenmassen und Verlusten mit dem Bürger- und Interventionskrieg nicht vergleichbar ist. Kesselschlachten mit Millionen Kombattanten, Panzerschlachten mit Tausenden von Panzern, Einsatz von Tausenden von Kampfflugzeugen, an Frontabschnitten mit zum Teil über 1000 km Breite und Tiefen von 50 - 100 km, Forcieren kilometerbreiter Ströme gab es im Bürger- und Interventionskrieg noch nicht. Im Großen Vaterländischen Krieg war Stalin Oberbefehlshaber. Im Bürger- und Interventionskrieg war er Mitglied des Revolutionären Kriegsrates der Republik.

Mehrfach wurde Stalin an die Fronten des Bürger- und Interventionskrieges als militärpolitischer Beauftragter des ZK der KPR (B), des Kriegsrates oder direkt auf Weisung Lenins gesandt, besonders, wenn es dort zu kritischen Situationen für die Rote Armee kam.

In diesen Funktionen bewies Stalin militärisches Geschick und theoretische Einsichten in die Gesetzmäßigkeiten der Politik und des Krieges, die vor allem in seiner Tätigkeit an der Südwestfront gegen die polnischen Pans und an der Südfront gegen Denikin nachweisbar sind.

Als erstes sei der Frage nachgegangen, über welche militärtheoretischen Voraussetzungen Stalin in diesem Zeitraum, 1918 - 1920 verfügte.

Eine marxistische Militärtheorie war in den Werken von Marx und Engels in Grundzügen bereits ausgearbeitet, vor allem in den militärgeschichtlichen und -theoretischen Schriften von Engels, der zu recht als der Begründer der marxistischen Militärtheorie bezeichnet wird.

Wie bei jeder neuen Theorie mußte auch Engels an das vorgefundene militärtheoretische Material anknüpfen, und das fand sich vor allem in den Schriften des bedeutendsten preußischen Militärtheoretikers Carl von Clausewitz (1780 - 1831), besonders in dessen Hauptwerk „Vom Kriege", wieder.

Clausewitz spielte für die marxistische Militärtheorie etwa die gleiche Rolle wie Hegel für die Ausarbeitung der materialistischen Dialektik. Wenn Marx die Hegelsche Dialektik „vom Kopf auf die Füße" stellte, so kann man dies analog auch für Engels bezüglich der Militärtheorie von Clausewitz geltend machen. Lenin meinte später, daß die Ideen von Clausewitz von Hegel befruchtet waren.1) Auf die Erkenntnis der Dialektik des Krieges im Werk von Clausewitz wiesen Marx und Engels in mehreren Werken hin, teils direkt, teils indirekt, aus dem Kontext der Schriften erkennbar. Direkte Verweise auf Clausewitz erscheinen bei Marx und Engels jedoch auch erst seit Anfang der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts. Das bedeutet nicht, daß es vorher keine militärgeschichtlichen oder -theoretischen Schriften von Marx/Engels gegeben hat. Hier sei nur an Engels Arbeiten „Die deutsche Reichsverfassungskampagne" und „Der deutsche Bauernkrieg" erinnert, beide 1850 geschrieben.

In einem Brief an Marx vom 7. Januar 1858 schrieb Engels: „Ich lese jetzt u.a. Clausewitz ‘Vom Kriege’. Sonderbare Art zu philosophieren, der Sache nach aber sehr gut. Auf die Frage, ob es Kriegskunst oder Kriegswissenschaft heißen müsse, lautet die Antwort, daß der Krieg am meisten dem Handel gleiche.

Das Gefecht ist im Kriege, was die bare Zahlung im Handel ist, so selten sie in der Wirklichkeit vorzukommen braucht, so zielt doch alles darauf hin, und am Ende muß sie doch erfolgen und entscheiden."2)

In seinem Artikel „Bestätigte Wahrheit" vom 4. August 1859 berief sich Marx auf eine Stelle von Clausewitz über den italienischen Feldzug von 1796/97, wonach „der Krieg im Grunde genommen keine so theatralische Angelegenheit sei, wie manche Leute anzunehmen scheinen, und daß sich Siege und Niederlagen, mit dem Auge der Wissenschaft betrachtet, ganz anders darstellen als in den Köpfen der politischen Schwätzer."3)

Engels wies in seinem Artikel „Der Kampf in Frankreich" vom 11. November 1870 auf Scharnhorst, Gneisenau und Clausewitz bezüglich des Volkskampfes gegen die Napoleonische Fremdherrschaft in Preußen hin.

Clausewitz und Gneisenau untersuchten den Volkskampf, die Volksbewaffnung in Spanien und Preußen Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts sehr genau. Gneisenau ging sogar nach Spanien, um selber am Kampf der Guerilla gegen Napoleon teilzunehmen. An dem Volkskampf in Preußen sollten alle „Burschen zwischen 17 und 20 Jahren und die Männer von 40 bis 60 Jahren" im „Landsturm" teilnehmen, einer „levée en masse", (Volkserhebung, UH), sich „im Rücken und in den Flanken des Feindes" erheben, seine „Bewegungen stören", seine „Zufahrten und Kuriere abschneiden", „alle Arten von Waffen benutzen", die Eindringlinge beunruhigen, vor allem „keine Uniform irgendwelcher Art tragen, damit die Landstürmer ... dem Feinde unbekannt bleiben konnten".4)

Es ist unschwer zu erkennen, daß hier die Ausführungen Clausewitz‘ über die „Volksbewaffnung" aus seinem Werk „Vom Kriege" indirekt reflektiert sind. Sie sollten über ein Jahrhundert später im Partisanenkrieg ihre Realisierung in einem bis dahin unbekannten Ausmaß finden.

Über den dialektischen Zusammenhang zwischen Krieg und Politik, die berühmte Clausewitz-These vom Krieg als der Fortsetzung der Politik mit anderen, gewaltsamen Mitteln finden sich in den Werken von Marx und Engels nach dem Sachregister weit über hundert Hinweise. Sie lassen sich in vier Gruppen unterscheiden: 1. Krieg als Mittel, um sich vor einer „drohenden Revolution" zu retten; 2. Aggressionskrieg, um von inneren Schwierigkeiten abzulenken; 3. Revolutionskriege, zur Durchsetzung des gesellschaftlichen Fortschritts; 4. wie aus politischen Entscheidungen Kriege hervorgehen, so mehrfache Hinweise von Engels, daß die Annexion von Elsaß-Lothringen zu einer Koalition Frankreichs mit Rußland und letztendlich zu einer Europa „mit Krieg bedrohenden Krise" führen wird.5)

Clausewitz war natürlich nicht der einzige Militärtheoretiker, der in den Schriften von Marx und Engels reflektiert wurde. (Auf Arbeiten von Marx und Engels über die revolutionären Aufstände in China und Indien sowie den amerikanischen Bürgerkrieg kann hier nicht eingegangen werden.)

Wichtig für unser Thema sind die exakten Untersuchungen der napoleonischen Kriege Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts, der Befreiungskriege 1812/13, die Kriegstheorien Napoleons, Suworows und Kutusows. Allerdings unterliefen Engels dabei auch Fehleinschätzungen, die auf die damalige Quellenlage zurückzuführen sind, so die abwertende Beurteilung Kutusows und die überzogene Wertschätzung von Barclay de Tolly.6) Wenn Engels in einem Artikel vom 14. Dezember 1854 meinte, daß kein russischer General jemals einen originellen Gedanken gehabt hätte, nicht einmal Suworow, „dessen einzige Originalität das direkte Vorrücken" war, so scheint dies doch eine unzulässige Verallgemeinerung zu sein, die ebenfalls aus lückenhaften und fehlerhaften Quellen der damaligen Zelt resultierten.7)

Über Suworow äußerte sich Engels in späteren Arbeiten dagegen positiv, so in seinem Artikel „Po und Rhein", (Februar/März 1859 geschrieben) über den Alpenübergang einer russischen Armee unter Führung Suworows, wobei die Russen den sehr schwierigen Fußpfad, den Panixer Paß, 8.000 Fuß (ca. 2.800 m) hoch, überwanden, um einer stärkeren französischen Armee auszuweichen. „Diese Passage war bis dahin der großartigste aller modernen Alpenübergänge", meinte Engels und zitierte Suworow, nach dem „das russische Bajonett durch die Alpen drang. (Ruskij styk prognal cres Alpow)"8)

Lenin und Stalin haben die einschlägigen Schriften von Marx und Engels gekannt. Sie waren somit eine theoretische Quelle für die Ausarbeitung ihrer Militärtheorie, für die Ausarbeitung ihrer militärischen Strategien und deren Umsetzung in die Praxis. Lenin hat sehr gründlich die Schriften von Clausewitz studiert, wie seine Auszüge und Randbemerkungen zu „Hinterlassene Werke des Generals von Clausewitz über Krieg und Kriegführung, Vom Kriege, Band I, Berlin 1832" beweisen.9)

Lenin interessierte sich für Clausewitz’ Ausführungen über die Dialektik des Krieges sowie für das berühmte „Sechste Kapitel", Abschnitt B des Dritten Teils, 8. Buch, „Der Krieg ist ein Instrument der Politik", das er als „das allerwichtigste Kapitel" bezeichnete.10)

Wahrscheinlich hat Lenin diese Exzerpte im Jahr 1915 unter den Kampfbedingungen und Kräfteverhältnissen des Klassenkampfes des Proletariats im internationalen Maßstab, dem Herannahen der Revolution, unter den Bedingungen des Weltkrieges geschrieben. Einzelne Bemerkungen zu den Auszügen finden sich teilweise in Schriften Lenins im gleichen Zeitraum wieder.

Als erstes Exzerpt bei Lenin steht der Clausewitz-Satz: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln."11)

Clausewitz: „Wir müssen aber hier, damit der Leser nicht falsche Vorstellungen unterlege, bemerken, daß mit dieser natürlichen Tendenz des Krieges nur die philosophische, die eigentlich logische gemeint ist und keineswegs die Tendenz der wirklich im Konflikt begriffenen Kräfte, so, daß man sich z.B. darunter alle Gemütskräfte und Leidenschaften der Kämpfenden denken sollte." Randbemerkung Lenins: „Beginn der Abtrennung (Absonderung) des Objektiven vom Subjektiven."12)

Von Lenin am Rande stark angestrichen „Beispiel der Dialektik" der Satz: „Von der praktischen, aber freilich sehr unbestimmten Bedeutung, welche der Begriff eines Schlüssels des Landes in den Erzählungen der Feldherrn hat, wenn sie von ihren Kriegsunternehmungen sprechen, mußte man zu einer bestimmteren, also einseitigen, übergehen, wenn man ein System daraus entwickeln wollte." Randbemerkung Lenins: „bestimmter = einseitiger"...13)

Clausewitz über den Heerführer: „Ohne gebieterischen herrischen Willen, der bis auf das letzte Glied durchgreift, ist keine gute Heerführung möglich, und wer der Gewohnheit folgen wollte, immer das Beste von den Leuten zu glauben und zu erwarten, würde dadurch schon zu einer guten Heerführung ganz untüchtig sein." Randbemerkung Lenins: „ein guter Führer ... und Mißtrauen gegenüber den Leuten."14)

Die französischen Revolutionskriege haben nach Clausewitz die bisherigen Kriegstheorien (Lenin: „der Krieg = ein Spiel") überholt. Wie diese Revolutionskriege „mit einem Male eine ganz andere Welt von kriegerischen Erscheinungen öffneten, die, anfangs etwas roh und naturalistisch, dann später unter Bonaparte in eine großartige Methode zusammengefaßt, Erfolge hervorbrachte, die das Erstaunen von jung und alt machten: da ließ man von den alten Mustern los und glaubte nun, das sei alles die Folge neuer Entdeckungen, großartiger Idee usw., aber auch allerdings des veränderten gesellschaftlichen Zustandes. Man glaubte nun das Alte gar nicht mehr zu brauchen und auch nie wieder zu erleben. Wie aber bei solchen Umwälzungen der Meinungen immer Parteien entstehen, so hat denn auch hier die alte ihre Ritter gefunden, welche die neuen Erscheinungen wie rohe Gewaltstöße betrachten, wie einen allgemeinen Verfall der Kunst, und die den Glauben haben, daß gerade das gleichgewichtige, erfolglose, nichtige Kriegsspiel das Ziel der Ausbildung sein müßte. Dieser letzten Ansicht liegt ein solcher Mangel an Logik und Philosophie zum Grunde, daß man sie nur eine trostlose Verwirrung der Begriffe nennen kann. Aber auch die entgegengesetzte Meinung, als wenn dergleichen nicht weiter vorkommen würde, ist sehr unüberlegt. Von den neuen Erscheinungen im Gebiet der Kriegskunst ist das allerwenigste neuen Erfindungen oder neuen Ideenrichtungen zuzuschreiben und das meiste den neuen gesellschaftlichen Zuständen und Verhältnissen." Randbemerkung Lenins: „stimmt!"15)

Nach Clausewitz hatte das Volk im 18. Jahrhundert keinen unmittelbaren Anteil am Kriege: „Die (französische) Revolution hat das alles umgestaltet. ‘Der Krieg war urplötzlich wieder eine Sache des Volkes geworden.’ ‘...das ganze Volk trat mit seinem natürlichen Gewicht in die Waagschale.’"

„Seit Bonaparte also hat der Krieg, indem er zuerst auf der einen Seite, dann auch auf der andern wieder Sache des ganzen Volkes wurde, eine ganz andere Natur angenommen, oder vielmehr er hat seiner wahren Natur, seiner absoluten Vollkommenheit, sehr genähert.

Die Mittel, welche aufgeboten sind, hatten keine sichtbare Grenze, sondern diese verlor sich in der Energie und dem Enthusiasmus der Regierungen und ihrer Untertanen." Randbemerkungen von Lenin: „wichtig (aber eine Ungenauigkeit: der Bourgeoisie und vielleicht der ganzen) ... ‘Energie’ NB ‘Enthusiasmus’ der Untertanen".16)

Im Exzerpt aus dem w.o. genannten sechsten, „dem allerwichtigsten Kapitel" heißt es bei Clausewitz: „Man weiß freilich, daß der Krieg nur durch den politischen Verkehr der Regierungen und der Völker hervorgerufen wird; aber gewöhnlich denkt man sich die Sache so, daß mit ihm jener Verkehr aufhöre und ein ganz anderer Zustand eintrete, welcher nur seinen eigenen Gesetzen unterworfen sei.

Wir behaupten dagegen: Der Krieg ist nichts als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel. Wir sagen mit Einmischung anderer Mittel, um damit zugleich zu behaupten, daß dieser politische Verkehr durch den Krieg selbst nicht aufhört, nicht in etwas ganz anderes verwandelt wird, sondern daß er in seinem Wesen fortbesteht, wie auch die Mittel gestaltet sein mögen, deren er sich bedient, und daß die Hauptlinien, an welchen die kriegerischen Ereignisse fortlaufen und gebunden sind, nur seine Lineamente sind, die sich zwischen den Krieg durch bis zum Frieden fortziehen. Und wie wäre es anders denkbar? Hören denn mit den diplomatischen Noten je die politischen Verhältnisse verschiedener Völker und Regierungen auf? Ist nicht der Krieg bloß eine andere Art von Schrift und Sprache ihres Denkens? Er hat freilich seine eigene Grammatik, aber nicht seine eigene Logik.17)

Diese Aussage findet sich in Lenins Artikel „Der Zusammenbruch der II. Internationale" vom Juni 1915 in Polemik gegen Plechanow in der Fußnote in gekürzter Form wieder.18)

Lenin hat diese Sätze am Rande stark angestrichen.

Clausewitz schrieb, der Krieg als solcher folge „nicht seinen eigenen Gesetzen..." sondern müsse „als Teil eines andern Ganzen betrachtet werden... - und dieses Ganze ist die Politik." Von Lenin am Rande stark angestrichen mit der Bemerkung: „Der Krieg = Teil eines Ganzen", „dieses Ganze = die Politik".19)

Clausewitz setzte voraus, daß die Politik „in sich" alle Interessen der inneren Verwaltung, auch die der Menschlichkeit und was sonst der philosophische Verstand zur Sprache bringen könnte", „vereinigt und ausgleicht". Politik „ist ja nichts an sich, sondern ein bloßer Sachverwalter aller dieser Interessen gegen andere Staaten. Daß sie eine falsche Richtung haben, dem Ehrgeiz, dem Privatinteresse, der Eitelkeit der Regierenden vorzugsweise dienen kann, gehört nicht hierher"; Von Lenin stark angestrichen mit der Bemerkung: „NB ein Schritt zum Marxismus".20)

Weiter bei Clausewitz: „...wir können hier die Politik nur als Repräsentanten aller Interessen der ganzen Gesellschaft betrachten". Von Lenin stark angestrichen.21)

Clausewitz bemerkt über das Primat der Politik gegenüber dem Krieg: „Das Unterordnen des politischen Gesichtspunktes unter den militärischen wäre widersinnig, denn die Politik hat den Krieg erzeugt; sie ist die Intelligenz, der Krieg aber bloß das Instrument, und nicht umgekehrt. Es bleibt also nur das Unterordnen des militärischen Gesichtspunktes unter den politischen möglich."22) „... jeder Krieg", meinte Clausewitz, müsse „vor allen Dingen nach der Wahrscheinlichkeit seines Charakters und seiner Hauptumrisse aufgefaßt werden..., wie sie sich aus den politischen Größen und Verhältnissen ergeben, und daß oft, ja wir können in unsern Tagen wohl behaupten, meistens der Krieg wie ein organisches Ganzes betrachtet werden muß, von dem sich die einzelnen Glieder nicht absondern lassen, wo also jede einzelne Tätigkeit mit dem Ganzen zusammenströmen und aus der Idee dieses Ganzen hervorgehen muß: so wird es uns vollkommen gewiß und klar, daß der oberste Standpunkt für die Leitung des Krieges, von dem die Hauptlinien ausgehen, kein anderer als der der Politik sein könne.

Von diesem Standpunkt aus ... wird ... die Geschichte verständlicher." Der letzte Satz von Lenin angestrichen.23)

Clausewitz schrieb, daß der Krieg „selbst ... in seinem Wesen und in seinen Formen bedeutende Veränderungen erlitten" habe. Diese Veränderungen seien „aus der veränderten Politik entstanden, welche aus der französischen Revolution sowohl für Frankreich als auch für ganz Europa hervorgegangen" sei. Randbemerkung von Lenin: „stimmt".

„Diese Politik", so Clausewitz, „hatte andere Mittel, andere Kräfte aufgeboten und dadurch eine Energie der Kriegführung möglich gemacht, an welche außerdem nicht zu denken gewesen wäre."24)

Es bleibt zu bemerken, daß die Exzerpte Lenins natürlich nicht das Gesamtwerk Clausewitz’ „Vom Kriege" erfassen.

Dem DDR-Militärhistoriker Gerhard Förster ist zuzustimmen, wenn er schreibt: „Ebenso wie die klassische deutsche Philosophie zu einer der Quellen des Marxismus-Leninismus wurde, gehört das theoretische Erbe von Clausewitz zu den Quellen der marxistisch-leninistischen Lehre vom Kriege und von den Streitkräften." Förster zitiert auch den bürgerlichen Clausewitzforscher Werner Hahlweg, der „Lenin als perfekten Interpreten von Clausewitz" bezeichnete, und „Lenins Studium des Werkes von Clausewitz in unmittelbaren Zusammenhang mit Lenins Ausarbeitung wichtiger Prinzipien der Strategie und Taktik der Bolschewiki" bringt.25)

Lenin bezog sich in seinen Schriften zur Kriegsfrage während des Ersten Weltkrieges mehrfach auf Clausewitz. In Polemik gegen die „entstellte(n) Dialektik" Plechanows, der die These der „Vaterlandsverteidigung" im imperialistischen Krieg befürwortete, verwies Lenin auf die These Clausewitz’ vom Krieg als „bloßer Fortsetzung der Politik mit anderen (nämlich gewaltsamen) Mitteln."26) In der Fußnote führte er einen diesbezüglichen Passus aus Clausewitz’ „Vom Kriege" an.27) Dies sei die Formulierung von Clausewitz, „dessen Ideen von Hegel befruchtet waren. Und gerade das war der Standpunkt von Marx und Engels, die jeden Krieg als eine Fortsetzung der Politik der betreffenden interessierten Mächte - und der verschiedenen Klassen in ihnen - in dem betreffenden Zeitabschnitt auffaßten."28)

In seiner Schrift „Sozialismus und Krieg" (Juli - August 1915) präzisierte Lenin diesen Gedanken: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit andern (nämlich gewaltsamen) ‘Mitteln’. Dieser berühmte Ausspruch stammt von Clausewitz, einem der geistvollsten Militärschriftsteller. Die Marxisten haben diesen Satz mit Recht stets als theoretische Grundlage ihrer Auffassungen von der Bedeutung eines jeden konkreten Krieges betrachtet. Marx und Engels haben die verschiedenen Kriege stets von diesem und keinem anderen Standpunkt aus beurteilt."29)

Zwei Jahre später, nach der Februarrevolution, bezog sich Lenin in seiner Lektion „Krieg und Revolution" auf diesbezügliche Aussagen von Clausewitz. Im Kriege würden sie Verhältnisse antreffen, in denen der Klassenkampf innerhalb jeder einzelnen Nation mit einem durch diesen Klassenkampf erzeugten Krieg zwischen verschiedenen Nationen zusammentreffen, woraus revolutionäre Kriege entstehen können. Einen solchen revolutionären Krieg würden die Kommunisten nicht ablehnen. „Man muß untersuchen aus welchen historischen Bedingungen heraus der betreffende Krieg entstanden ist, welche Klassen ihn führen und mit welchem Ziel sie ihn führen."30) Schon Clausewitz habe vor achtzig Jahren die Ansicht verspottet, „als lebten die Völker in Frieden und schlügen dann plötzlich aufeinander los! Als ob das die Wahrheit wäre! Kann man denn den Krieg erklären, ohne ihn in Zusammenhang zu bringen mit der vorausgegangenen Politik des betreffenden Staates, des betreffenden Staatssystems, der betreffenden Klassen? Ich wiederhole noch einmal: das ist die Grundfrage, die man stän-dig vergißt, aus deren Nichtverstehen heraus neun Zehntel der Gespräche über den Krieg zu leerem Gezänk bzw. zu einem Austausch von Redensarten werden. Wir sagen: Wenn man nicht die Politik beider Gruppen der kriegführenden Mächte im Laufe der Jahrzehnte studiert hat - um Zufälligkeiten zu vermeiden und nicht Einzelbeispiele herauszugreifen -, wenn man nicht den Zusammenhang dieses Krieges mit der vorausgegangenen Politik aufgezeigt hat, dann hat man nichts von diesem Krieg begriffen!"31)

Mit der Bindung des Krieges und der Politik an Klassen, Klassenkampf und Klasseninteressen gingen schon Marx und Engels über Clausewitz hinaus. Aber Marx und Engels konnten Krieg und Klassenkampf nur im Kontext des 18. und 19. Jahrhunderts analysieren, als die proletarische Revolution noch nicht auf der Tagesordnung stand. Sie haben den Ersten Weltkrieg nicht mehr erlebt, in dessen Gefolge die proletarische Revolution und nationaldemokratische Revolutionen in Asien herangereift waren, damit die Frage Krieg - Klassenkampf - Revolution eine besondere Brisanz erhielt. Es läßt sich bezüglich der Kriegstheorie eine Kontinuitätslinie von Hegel/Clausewitz über Marx und Engels zu Lenin erkennen, bei Diskontinuität bezüglich des bürgerlich-adligen Klasseninhalts, der konservativen Seite in der Philosophie bzw. Kriegstheorie Hegel/Clausewitz’, die dialektisch negiert wurden.

Eine weitere Entwicklung der dialektisch-materialistischen Kriegstheorie ist in Ausführungen Lenins anläßlich des Brester Friedens erkennbar. Die Anwendung der Kriegstheorie Clausewitz’ auf die Praxis bewies Lenin in scharfen Auseinandersetzungen im ZK der SDAPR (B), im Rat der Volkskommissare sowie im Zentralexekutivkomitee um die Unterzeichnung des Friedensvertrages von Brest-Litowsk. (Die Verhandlungen zwischen der deutschen und sowjetischen Delegation begannen am 3. Dezember 1917. Am 3. März 1918 erfolgte die Unterzeichnung.)

Die Verhandlungsdelegation der deutschen und österreichischen Armee forderte einen imperialistischen Frieden: Polen, Litauen, ein Teil Estlands, Lettlands, Belorußlands, der Ukraine, die Moonsundinseln und der Rigaer Meerbusen sollten von Rußland abgetrennt werden. Dadurch konnten die Imperialisten Deutschlands die Seewege nach Finnland und nach dem Botnischen Meerbusen kontrollieren, Petrograd damit unmittelbar bedrohen.32)

Einige Parteimitglieder, die sich als „linke Kommunisten" bezeichneten, liefen gegen die Unterzeichnung eines solchen Schandvertrages Sturm. Zu dieser Gruppe gehörten Bucharin, Bela Kun, A. Kollontai, Kuibyschew, Preobrashenski, Pjatakow, Radek, Skorzow-Stepanow, um die bekanntesten zu nennen. Eine ganz besondere Stellung bezog Trotzki. Er meinte, daß die deutschen Gruppen nicht in der Lage seien, gegen Sowjetrußland eine Offensive zu führen und propagierte die Losung: „Weder Krieg noch Frieden". Zugleich schlug er die Demobilisierung der Armee vor. Diese Politik gegenüber den deutschen Militaristen war lebensgefährlich für die Sowjetmacht.33)

Stalin, der Lenin in diesen Auseinandersetzungen mit den „linken Kommunisten" und mit der abenteuerlichen These Trotzkis unterstützte, erklärte in der Sitzung der SDAPR (B) am 11. Januar 1918, daß wenn sie die Losung des „revolutionären Krieges" annähmen, sie den Imperialisten in die Hände spielen würden. Stalin sah sehr klar - möglicherweise sogar schärfer als Lenin? - wenn er erklärte, daß es „keine revolutionäre Bewegung im Westen" gibt; „es sind keine Tatsachen vorhanden, die von einer revolutionären Bewegung sprächen, diese besteht nur in der Potenz; ... aber auf Potenzen allein können wir uns in unserer Praxis nicht verlassen. Wenn die Deutschen eine Offensive einleiten, dann wird das bei uns die Konterrevolution stärken. ... Wenn wir die Politik Trotzkis annehmen, schaffen wir damit die schlechtesten Bedingungen für die revolutionäre Bewegung im Westen."34)

Lenin konnte sich zunächst im ZK der SDAPR (B) nicht durchsetzen. Die Mehrheit der Genossen stimmte gegen die Unterzeichnung des Vertrages. Auch im Rat der Volkskommissare und im Zentralexekutivkomitee, in dem die Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Mehrheit bildeten, blieb er mit Stalin, Swerdlow, F.A. Sergejew (Artjom) und einigen anderen Genossen in der Minderheit.

Lenin hatte mit Trotzki, dem sowjetischen Verhandlungsführer, ausgemacht, um Zeit zu gewinnen, den Friedensvertrag erst nach Ablauf des von den deutschen Militaristen gestellten Ultimatums zu unterzeichnen. Gegen diese Absprache hat Trotzki eigenmächtig verstoßen. Auf dem VII. Parteitag der KPR (B) (6. - 8. März 1918) erklärte Lenin in seinem Schlußwort zum Referat über Krieg und Frieden, daß man in der Tätigkeit Trotzkis zwei Seiten unterscheiden müsse: „...als er die Verhandlungen in Brest aufnahm und sie ausgezeichnet zu Agitationszwecken ausnutzte, waren wir alle mit Gen. Trotzki einverstanden. Er hat einen Teil der Unterredung mit mir zitiert, aber ich füge hinzu, wir hatten ausgemacht, daß wir uns bis zum Ultimatum der Deutschen halten und nach dem Ultimatum kapitulieren. Der Deutsche hat uns übers Ohr gehauen: von den sieben Tagen hat er uns fünf gestohlen. Trotzkis Taktik war richtig, insofern sie darauf ausging, die Sache in die Länge zu ziehen: sie wurde unrichtig, als der Zustand des Krieges für beendet erklärt und der Frieden nicht unterzeichnet wurde. Ich schlug in der bestimmtesten Form vor, den Frieden zu unterzeichnen. Einen besseren Frieden als den Brester konnten wir nicht bekommen. Es ist allen klar, daß wir dann eine Atempause von einem Monat gehabt, daß wir nicht verspielt hätten."

Und weiter an anderer Stelle: „Es ist lächerlich, die Kriegsgeschichte nicht zu kennen, nicht zu wissen, daß ein Vertrag ein Mittel ist, um Kräfte zu sammeln: ich habe mich bereits auf die preußische Geschichte berufen. Einige urteilen entschieden wie die Kinder: Wir haben den Vertrag unterzeichnet, also haben wir uns dem Satan verkauft, sind in die Hölle geraten. Das ist einfach lächerlich, wo doch die Kriegsgeschichte ganz klar zeigt, daß die Unterzeichnung eines Vertrags angesichts einer Niederlage ein Mittel zum Sammeln der Kräfte ist."35)

Die Folge der fehlerhaften Haltung Trotzkis sowie der „linken Kommunisten" war eine Offensive der deutschen Armee an der gesamten Front: Vormarsch Richtung Petrograd; Einmarsch in die Ukraine und in Belorußland; Eroberung Litauens und Estlands, wo sie die Sowjetmacht beseitigten. 36)

Buchstäblich in letzter Minute stellte der Rat der Volksbeauftragten die Losung auf: „Das sozialistische Vaterland ist in Gefahr!" Es gelang den Bolschewiki, die Arbeiter Petrograds, Moskaus und anderer Industriegebiete zu mobilisieren, Einheiten der „Roten Armee" aufzustellen, die den deutschen Truppen bei Pskow und Narwa heftigen Widerstand entgegensetzten und die Einnahme Petrograds verhinderten. Der 23. Februar 1918 wurde zum Gründungstag der „Roten Armee".

Auch in der Ukraine und in Belorußland stieß die deutsche Offensive auf ernsthaften Widerstand, so daß sich das deutsche Oberkommando bereit erklärte, die Friedensverhandlungen wieder aufzunehmen. Die Bedingungen waren für Sowjetrußland jetzt noch härter als zuvor, wie von Lenin erwartet. Aber Lenin konnte sich nunmehr im Zentralkomitee durchsetzen. Nach einer Protokollnotiz der ZK-Sitzung habe Stalin vorgeschlagen, vorläufig nicht zu unterschreiben, worauf Lenin geantwortet habe: „Wenn Sie nicht unterschreiben, dann werden Sie in drei Wochen das Todesurteil der Sowjetmacht unterschreiben."36) Warum Stalin, der ursprünglich für die Unterzeichnung des Friedensvertrages war, am 23. Februar eine Unterzeichnung verzögern wollte - er hatte nicht abgelehnt! - konnte ich nicht herausfinden.

Soweit die Fakten zum Brester Frieden.

Lenin verglich in seiner Argumentation den Brester Frieden mit dem Tilsiter Frieden zwischen Preußen und Napoleon am 9. Juli 1807. Preußen mußte unter anderem alle Gebiete zwischen Elbe und Rhein an Napoleon, den Cottbuser Kreis an Sachsen sowie die nach 1772 von Polen annektierten Gebiete abtreten. Letztere verwandelte Napoleon in das „Großherzogtum Warschau", in das er den König von Sachsen installierte. Preußen verlor über die Hälfte seiner Einwohner. In der „Pariser Konvention" vom 8. September 1808 hatte Preußen 140 Millionen Francs (nach Intervention des Zaren auf 120 Millionen reduziert) Kontribution an Frankreich zu zahlen. Im Falle eines Krieges Frankreichs gegen Österreich hatte Preußen ein Hilfskorps zu stellen.37)

Lenin erklärte auf dem VII. Parteitag, daß er den Brester Frieden „absichtlich einen Tilsiter Frieden genannt" habe. Sie hätten jedoch in Brest keine solche Verpflichtung unterschrieben wie Preußen im Tilsiter Frieden, nämlich „dem Eroberer unsere Truppen zur Unterstützung bei seinen Eroberunszügen gegen andere Völker zur Verfügung zu stellen ..." Und weiter, Sowjetrußland könnte sich nicht „auf eine auf dem Schlachtfeld ausgelöste Weltrevolution verlassen."38)

Ausführlicher ging Lenin auf die Analogie zwischen dem Tilsiter und Brester Frieden in seinem Referat auf dem Außerordentlichen IV. Gesamtrussischen Sowjetkongreß (14. - 16. März 1918) ein, wobei die Anwendung der kriegstheoretischen Erkenntnisse Clausewitz’ auf die Situation Sowjetrußlands unübersehbar ist.

„Es ist vorgekommen, daß ein noch schwererer Frieden geschlossen wurde, und zwar von den Deutschen zu einer Zeit, wo sie keine Armee hatten oder ihre Armee krank war, so wie unsere Armee krank ist. Sie schlossen einen überaus schweren Frieden mit Napoleon. Und dieser Frieden bedeutete nicht den Untergang Deutschlands, im Gegenteil, er wurde zu einem Wendepunkt, führte zur nationalen Verteidigung, zu einem Aufschwung. Auch wir stehen am Vorabend eines solchen Wendepunkts, auch wir durchleben analoge Bedingungen. Man muß der Wahrheit ins Auge sehen und Phrase und Deklamation von sich weisen. Man muß sagen: Wenn es notwendig ist, so muß der Frieden geschlossen werden. Der Befreiungskrieg, der Klassenkrieg, der Volkskrieg wird den Napoleonischen Krieg ablösen. Das System der Napoleonischen Kriege wird sich ändern, der Frieden wird den Krieg, der Krieg den Frieden ablösen, und jeder neue drückende Frieden hat stets eine breitere Vorbereitung zum Krieg zur Folge gehabt. Der schwerste der Friedensverträge - der Tilsiter - ist in die Geschichte eingegangen als Wendepunkt zu einer Zeit, wo im deutschen Volk ein Umschwung einsetzte, wo es sich bis Tilsit, bis nach Rußland zurückzog, in Wirklichkeit aber Zeit gewann und abwartete, bis die internationale Situation, die eine Zeitlang Napoleon, einem ebensolchen Räuber wie jetzt die Hohenzollern und Hindenburg, die Möglichkeit gegeben hatte, zu triumphieren, bis diese Lage sich änderte, bis das Bewußtsein des von den viele Jahre währenden Napoleonischen Kriegen und von Niederlagen erschöpften deutschen Volkes gesundete und es wieder zu neuem Leben erstand. Gerade das lehrt uns die Geschichte, deshalb ist jede Verzweiflung, jede Phrase ein Verbrechen, deshalb wird jeder sagen: Jawohl, die alten imperialistischen Kriege gehen zu Ende. Der geschichtliche Umschwung hat begonnen."39)

Es ist zweifellos richtig, daß mit dem Roten Oktober ein „geschichtlicher Umschwung" begonnen hat, wobei Lenin bereits auf „lange und schwere Zeiten" orientierte. Die Annahme, daß die „alten imperialistischen Kriege" zu Ende gingen, ist aus der Sicht von 1918 verständlich, erwies sich jedoch als verfrüht. Die alten imperialistischen Kriege erleben nach dem einstweiligen Sieg der Konterrevolution eine verderbliche Renaissance, mit allen für die Werktätigen im internationalen Maßstab verbundenen Katastrophen, deren Ende auch nicht annähernd angegeben werden kann.

Lenin bezog die Kriegstheorie Clausewitz’ auch auf die Aufgaben eines Feldherrn in einer verzweifelten Situation, in der sich Sowjetrußland nach dem Brester Frieden befand. So schrieb er in seinem Artikel „Die Hauptaufgabe unserer Tage" in der Iswestija WZJK vom 12. März 1918:

„Der Heerführer, der die Reste einer geschlagenen oder panisch flüchtenden Armee in das Innere des Landes zurückführt, der diesen Rückzug schützt, im äußersten Fall sogar mit dem schwersten und erniedrigendsten Frieden, begeht keinen Verrat an den Truppenteilen, denen er nicht helfen kann und die der Feind abgeschnitten hat. Ein solcher Heerführer erfüllt seine Pflicht, wenn er den einzigen Weg wählt, um zu retten, was noch zu retten ist, sich nicht auf Abenteuer einläßt, wenn er vor dem Volke die bittere Wahrheit nicht beschönigt, Raum aufgibt, um Zeit zu gewinnen, wenn er jede, selbst die kleinste Atempause ausnutzt, um Kräfte zu sammeln, um die Armee, die an Zersetzung und Demoralisierung leidet, Atem schöpfen und gesunden zu lassen."

Und weiter:

„Die Epochen der Kriege lehren uns, daß der Frieden in der Geschichte nicht selten die Rolle einer Atempause und der Sammlung der Kräfte für neue Schlachten gespielt hat. Der Tilsiter Frieden war die größte Erniedrigung Deutschlands und gleichzeitig eine Wendung zu einem gewaltigen nationalen Aufschwung.40)

In seiner Artikelserie in der Prawda vom 9., 10., 11. Mai 1918 „Über ‘linke’ Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit" bezog sich Lenin in seiner Polemik gegen die Gruppe der „linken Kommunisten" wiederholt auf Clausewitz: „Die Verteidigung des Landes ernst nehmen heißt sich gründlich vorbereiten und das Kräfteverhältnis streng in Rechnung stellen. Wenn wir offenkundig schwach sind, so ist das wichtigste Mittel der Verteidigung der Rückzug in das Innere des Landes (wer darin eine nur für diesen Fall zurechtgebogene Formel sieht, kann bei dem alten Clausewitz, einem der großen Militärschriftsteller, über die Ergebnisse der Lehren der Geschichte in dieser Beziehung nachlesen)."41)

Nach Aufzeichnungen aus Stalins Bibliothek hat er die Schriften Clausewitz’ gekannt; namentlich werden dessen Standardwerk „Vom Kriege" und die Schrift „Das Jahr 1812" genannt. Es fanden sich in seiner Bibliothek auch Werke von Suworow, Napoleon, Moltke, E.W. Tarle und anderer Militärschriftstellern.42)

Bekannt ist der Brief von Stalin an Oberst Professor Dr. Rasin vom 25. Februar 1946.42a) Darin unterschied er zwischen einem allgemein politischen und einem spezifisch militärwissenschaftlichen Herangehen an die Militärtheorie Clausewitz’. Lenin habe zwei Thesen von Clausewitz hervorgehoben, erstens, daß der Krieg die Fortsetzung der Politik mit den Mitteln der Gewalt ist, zweitens, daß unter bestimmten Bedingungen der Rückzug eine ebenso berechtigte Kampfform darstellt wie der Angriff.

Zu den spezifisch militärtheoretischen Aussagen Clausewitz’ habe sich Lenin nicht geäußert. Soweit stimmte Stalin mit Lenin überein.

Clausewitz sei ein Vertreter des „Manufakturzeitalters" des Krieges gewesen. Dies erkläre, daß seine Kriegstheorie veraltet sei. Jetzt stünden sie im „maschinellen Zeitalter" des Krieges. Dies erfordere eine „neue militärische Ideologie". „Es wäre lächerlich, heute bei Clausewitz in die Schule zu gehen."42b) Wenn dieser letzte Satz aus dem Zusammenhang gelöst und allein zitiert wird, wie zuweilen geschieht, kann daraus Stalin eine Abwertung der Militärtheorie Clausewitz’ unterstellt werden.

Stalin bezog seine Äußerungen jedoch nicht nur auf Clausewitz, sondern auch auf „veraltete Thesen und Äußerungen" von bekannten Autoritäten der Kriegstheorie, einschließlich der Klassiker des Marxismus. So kritisierte Stalin auch die weiter oben angeführte Äußerung von Engels, nach der General Barclay de Tolley der einzige unter den russischen Feldherren von 1812 gewesen sei, der Bedeutung verdiene, während er Kutusow unterschätzt habe.

Man sollte nicht übersehen, daß zwischen der Einschätzung Clausewitz’ von Lenin und von Stalin drei Jahrzehnte lagen, der Zweite Weltkrieg und ab 1945 die atomare Bedrohung durch den US-Imperialismus, woraus unterschiedliche Gewichtungen in der Bewertung der Militärtheorie von Clausewitz resultierten. Wenn auch verständlich nach den Erfahrungen mit dem deutschen Militarismus, halte ich es für bedenklich, Clausewitz in eine Reihe mit „Molkte (welcher? UH), Schlieffen, Ludendorf, Keitel und anderen Trägern der militärischen Ideologie in Deutschland" zu stellen.42c)

Auch wenn die deutschen Faschisten versuchten, Clausewitz für sich zu vereinnehmen, ist eine „Kontinuitätslinie" von Clausewitz als Militär der Befreiungskriege zu Keitel als Repräsentant der faschistischen deutschen Wehrmacht unakzeptabel.

Richtig ist, daß mit der Einführung von ABC-Waffen in die Militärstrategie die kriegstheoretischen Schriften von Clausewitz wie auch von Engels bezüglich ihrer strategischen und taktischen Aussagen weitgehend überholt sind, während die politischen Aussagen, wie Krieg als Fortsetzung der Politik von Klassen mit gewaltsamen Mitteln, nach wie vor aktuell bleiben, wie der US-Imperialismus Anfang des 21. Jahrhunderts empirisch bewiesen hat.

Wir wissen aber nicht, wann Stalin was gelesen hat, über welche theoretischen Kenntnisse er aus diesen Schriften schon 1918, bei Beginn des Bürger- und Interventionskrieges, verfügte. Stalin kannte zu dieser Zeit die Werke von Marx und Engels, wie aus dem Kontext seiner Schriften bis 1920 hervorgeht. Er kannte auch die w.o. angeführten Artikel und Reden Lenins von 1915 und zum Brester Frieden, konnte somit indirekt Aussagen von Clausewitz, wenn man so will, aus „zweiter Hand", reflektieren. Lenin standen die Bibliotheken in Westeuropa während der Zeit seiner Emigration zur Verfügung, während Stalin während der Zeit seiner Kämpfe in Rußland, in der Illegalität, auf der Flucht, in Verbannung und in Gefängnissen nur begrenzten Zugang zu wissenschaftlicher Literatur hatte. Darum ist es schwierig, sichere Aussagen darüber zu treffen, was Stalin in diesem Zeitraum an kriegstheoretischer Literatur kannte. Im Kontext seiner Schriften bis 1920 konnte ich keine Hinweise auf Clausewitz finden.

Stalin konnte zunächst nur empirisch an die gesellschaftliche Erscheinung Krieg herangehen. Mit der Methode der materialistischen Dialektik, die er zu dieser Zeit schon beherrschte, vermochte er die Erfahrungen des Bürger- und Interventionskrieges theoretisch zu verallgemeinern. Die dialektisch-widersprüchliche Einheit von Krieg - Politik - Ökonomie konnte er aus den Werken von Marx und Engels übernehmen und in seinen Analysen der Ereignisse an den Fronten des Bürger- und Interventionskrieges als Methode anwenden.

So hat Stalin den Krieg als ein Ganzes in seinem Zusammenhang mit Politik und Ökonomie verstanden, ganz im Sinne von Clausewitz, unabhängig davon, was er von ihm kannte. Dies war ein Vorzug gegenüber so manchem Berufsmilitär, der die Eigengesetzlichkeit des Krieges gegenüber der Politik verabsolutierte, von den Gesetzmäßigkeiten der Politik abstrahierte und somit Gefahr lief, eklatante strategische Fehlurteile zu fällen. Von sehr großer Bedeutung für Stalins Kriegstheorie waren seine ausgezeichneten Kenntnisse der nationalen Frage, die er sich in seiner revolutionären Tätigkeit, vor allem im Kaukasus, angeeignet und theoretisch verallgemeinert hatte.43)

Sein Verständnis der nationalen Komponente in der Kriegstheorie sollte ihm vor allem in den Abwehrkämpfen gegen die polnischen Pans an der Westfront 1920 zu Gute kommen, wie noch zu zeigen sein wird.

Auf Stalins militärpolitische Tätigkeit im Bürger- und Interventionskrieg trifft die Aussage Clausewitz’ über die Rolle der Theorie im Kriege zu: „Sie kann ihm keine Formeln zur Auflösung der Aufgaben mitgeben, sie kann seinen Weg nicht auf eine schmale Linie der Notwendigkeit einschränken durch Grundsätze, die sie zu beiden Seiten aufmarschieren läßt. Sie läßt ihn einen Blick in die Masse der Gegenstände und ihrer Verhältnisse tun und entläßt ihn dann wieder in die höheren Regionen des Handelns, um nach dem Maß der ihm gewordenen natürlichen Kräfte mit der vereinten Tätigkeit aller zu handeln und sich des Wahren und Rechten wie eines einzelnen klaren Gedankens bewußt zu werden, der, durch den Gesamteindruck aller jener Kräfte hervorgetrieben, mehr ein Produkt der Gefahr als des Denkens zu sein scheint."44)

1.2. Erste Erfahrungen und Erkenntnisse

Der Geschichtsprozeß verläuft nicht selten auf eigenartigen Wegen. Erstes militärischer Eingreifen in den Bürger- und Interventionskrieg nahm Stalin in seiner Funktion als „Gesamtleiter der Lebensmittelbeschaffung im Süden Rußlands" vor. In diese Funktion war er auf Beschluß des Rates der Volkskommissare mit „außerordentlichen Vollmachten" berufen worden. Am 6. Juni 1918 traf er aus Moskau kommend in Zarizyn ein. In der Ausübung dieser Funktion lernte Stalin ganz empirisch den Zusammenhang einer ordentlichen Wirtschaftsverwaltung und Kriegsführung kennen, daß Erfolge im Kriege in erster Linie von der Organisation im Hinterland abhängen.

Aufschlußreich für die Lage im Kaukasusgebiet ist ein Telegramm Stalins an Lenin vom 7. Juni 1918.

In Zarizyn, Astrachan und Saratow haben die Sowjets das Getreidemonopol und die festen Preise abgeschafft. Die Folge waren „wüste Zustände" und „Schleichhandel". Er habe in Zarizyn die Einführung des Kartensystems und fester Preise durchgesetzt. Das Zentrale Exekutivkomitee (ZEK) und der Rat der Volkskommissare müsse von den Sowjets verlangen, mit dem Schleichhandel aufzuräumen.

Der Eifer einer „Unzahl von Kollegien und Revolutionskomitees" habe den Eisenbahnverkehr „völlig zerrüttet". Trotz der „Proteste der Kollegien" sei er dabei, Ordnung zu schaffen. An verschiedenen Orten habe er einen „Haufen von Lokomotiven" entdeckt, von deren Existenz die Kollegien nichts wußten. Er sei dabei, in Zarizyn Züge zusammenzustellen, um „ungefähr eine Million Pud nach Moskau" zu bringen. (1 Pud = 16,38 kg) Desgleichen sei die Schiffahrt in Stockung geraten. In Nishni Nowgorod werden Dampfer zurückgehalten. Lenin solle die Anweisung geben, die Dampfer nach Zarizyn durchzulassen.

Im Kubangebiet, in Stawropol gäbe es „zuverlässige Getreideaufkäufer", die dabei wären, „im Süden Getreide herauszupumpen".45)

Die Sowjetmacht war noch keineswegs gesichert, wie aus dem Telegrammwechsel Lenins mit Stalin vom 7. Juli 1918 ersichtlich. (In den Sowjets, Kollegien, Revolutionskomitees, etc. waren die Bolschewiki oftmals in der Minderheit, führten Menschewiki und Sozialrevolutionäre das große Wort. Der Kaukasus war eine Hochburg der Menschewiki und Sozialrevolutionäre. UH)

Am 7. Juli 1918 nachmittags um 15 Uhr wurde der deutsche Botschafter Mirbach von einem Sozialrevolutionär durch Bombenwurf ermordet. „Dieser Mord", so Lenin in seinem Telegramm, liegt offenkundig im Interesse der Monarchisten bzw. der englischen und französischen Kapitalisten. Die linken Sozialrevolutionäre, die den Mörder nicht ausliefern wollen, haben Dzierzynski und Lacis festgenommen und einen Aufstand gegen uns begonnen. Noch heute nacht werden wir schonungslos aufräumen... Wir sind um Haaresbreite von einem Krieg entfernt. Wir haben Hunderte von linken Sozialrevolutionären als Geiseln. Überall müssen diese erbärmlichen und hysterischen Abenteurer, die zu einem Werkzeug in den Händen der Konterrevolution geworden sind, schonungslos niedergeworfen werden... Also seien Sie schonungslos gegenüber den linken Sozialrevolutionären..."46)

In der telegrafischen Antwort Stalins heißt es: „Es wird alles getan werden, um eventuellen Überraschungen vorzubeugen. Seien Sie gewiß, daß unsere Hand nicht zittern wird..."47)

Zweierlei geht aus diesem Telegrammwechsel hervor, einmal die bedrohliche Lage, in der sich Sowjetrußland befand, in der sich konterrevolutionäre Aufstände, Bürger- und Interventionskrieg mit wirtschaftlichem Chaos verflochten, zum anderen, daß diese Lage zu außerordentlichen Maßnahmen zwang, die eben nicht nur von Stalin, sondern auch von Lenin durchgeführt wurden, von Stalin auf Weisung Lenins als dem Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare. Revolutions- und Bürgerkriege waren und sind nun mal keine gemütlichen Zeiten und lassen sich nicht nach abstrakten moralischen Kriterien und Prinzipien beurteilen. Auch in der Frage des Kampfes gegen die Konterrevolution und ausländischen Imperialisten zeigte sich Übereinstimmung und Kontinuität in der Politik zwischen Lenin und Stalin.

In einem Brief Stalins an Lenin vom 10. Juli 1918 werden gespannte Beziehungen zwischen Stalin und Trotzki erkennbar.

Trotzki verteile nach allen Seiten hin Mandate, (d.h. Bevollmächtigte, UH) was „mit Sicherheit" zur Folge habe, „daß bei uns in einem Monat im Nordkaukasus alles zusammenbricht und daß wir dieses Gebiet endgültig verlieren werden... Hämmern Sie ihm ein, daß ohne Wissen der örtlichen Funktionäre keine Ernennungen vorgenommen werden dürfen..."

„Die Lebensmittelfrage ist natürlich mit der militärischen Frage verflochten." Er benötige „militärische Vollmachten". Er habe schon darüber geschrieben, (an Trotzki? UH) aber keine Antwort erhalten. „Dann werde ich eben selbst, ohne Förmlichkeiten, diejenigen Armeebefehlshaber und Kommissare absetzen, die die Sache zugrunde richten .... das Fehlen eines Papierchens von Trotzki wird mich natürlich nicht davon abhalten."48)

Als Volkskommissar und Vorsitzender des Revolutionären Kriegsrates der Südfront führte Stalin eine straffe Verwaltungsorganisation ein und traf Maßnahmen, um in der Roten Armee eine „eiserne Disziplin" herzustellen. Damit überwand er die Ursachen für die äußerst kritische Lage der Sowjetmacht im Nordkaukasus. Der Frontsoldat, so Stalin, der „tüchtige Mushik", der im Oktober für die Sowjetmacht gekämpft habe, habe sich nunmehr gegen sie gewandt; „er haßt aus tiefstem Herzen das Getreidemonopol, die festen Preise, die Requisitionen, die Bekämpfung der Hamsterei."

Die sich „sowjetisch nennenden" Kosakenverbände führen keinen entschlossenen Kampf gegen die kosakische Konterrevolution. Ganze Regimenter gingen auf die Seite der Konterrevolution über.49)

In diese Zeit fiel auch das Attentat auf Lenin, der schwer verwundet wurde. (30. August 1918)

In dem von Stalin und Woroschilow unterzeichneten Telegramm des Kriegsrates des Nordkaukasischen Militärbezirks an den Vorsitzenden des ZEK, Genossen Swerdlow, von 31. August 1918 heißt es, daß sie „dieses gemeine, hinterhältige Attentat mit der Organisierung des offenen, systematischen Massenterrors gegen die Bourgeoisie und ihre Agenten" beantworten werden.50)

Attentat auf Lenin, Aufstände, Krieg gegen die ausländischen Interventen, Massenterror von beiden Seiten, wirtschaftliches Chaos, Hunger, das waren die konkreten Verhältnisse des Krieges, unter denen Stalin praktische Erfahrungen als Militär sammelte.

Im Kampf an der Südfront nahm Zarizyn eine zentrale Stellung ein. Es war der Punkt, auf den die konterrevolutionären Truppen, vorwiegend Kosakenverbände, sich konzentrierten. Der Besitz von Zarizyn würde den Weißgardisten ermöglichen, „die Konterrevolutionäre des Dongebiets mit den Kosakenoberschichten des Astrachaner und des Uraler Heeres" zu „vereinigen und somit eine Einheitsfront der Konterrevolution vom Don bis zu den Tschechoslowaken" zu „schaffen; sie würden den inneren und äußeren Konterrevolutionären den Besitz des Südens und des Kaspischen Gebiets sichern; sie würden die Sowjettruppen des Nordkaukasus in eine hilflose Lage versetzen..."51)

In der Organisation des Krieges konzentrierte er sich auf eine zweieinige Aufgabe: Erstens auf die Rote Armee, daß die Rotarmisten wußten, wofür sie kämpften, also die ideologische Seite des Krieges, Ordnung und Disziplin, ohne die eine Armee verloren ist, die Herausbildung eines „ganzen Stamms roter Offiziere", die „das Hauptbindemittel unserer Armee" bilden, „das sie zu einem homogenen disziplinierten Organismus zusammenschweißt."

Zweitens die praktische Umsetzung der theoretischen Erkenntnis, daß eine Armee „nicht lange ohne festes Hinterland existieren" kann. „Für eine stabile Front ist es notwendig, daß die Armee regelmäßig Ersatz, Munition und Proviant aus dem Hinterland erhält." Dafür benötige man tüchtige und kundige Verwaltungsfunktionäre, die „hauptsächlich aus fortgeschrittenen Arbeitern" herangebildet werden müssen. Man könne „mit Gewißheit sagen, daß Zarizyn ohne diese Verwaltungsfunktionäre nicht zu retten gewesen wäre."52)

Ende November 1918 war im Osten und Norden der Sowjetrepublik eine sehr gefährliche Lage entstanden. In Murmansk und Archangelsk gingen französische, englische, amerikanische und italienische Interventionstruppen an Land, die sich mit den weißgardistischen Einheiten verbanden. Insgesamt bestand diese zusammengesetzte Militärmacht aus etwa 40.000 Mann, die in Richtung Süd-Ost vordrangen, um sich mit den Truppen Koltschaks zu vereinigen, die von Westsibirien her angriffen. Im Gebiet östlich der Wolga und südlich der Kama stand das Tschechoslowakische Korps mit weißgardistischen Truppen.53) Die Armeen der Entente und Weißgardisten aus dem Raum Archangelsk sollten nach Süden, Koltschak, und die Tschechoslowaken von Osten bzw. Südosten nach Westen vorstoßen, um sich bei Kotlas zu treffen und von dort aus mit einer überwältigenden Truppenmacht auf Moskau zu marschieren. Nach verschiedenen Berechnungen umfaßten die Truppen der Entente und Weißgardisten in diesem Gebiet etwa 130.000 Soldaten und Offiziere. Koltschak ernannte sich auf Weisung der Entente zum Oberbefehlshaber sämtlicher weißgardistischer Truppen. Ihm hatten sich alle weißgardistischen Generale auf russischem Boden zu unterstellen. Koltschak verpflichtete sich gegenüber den Ententemächten im Januar 1919, den französischen General Janin als „Befehlshaber der russischen und alliierten Kräfte vom Baikal nach Westen, in Sibirien und in Ostrußland anzuerkennen".

Ende November eröffnete Koltschak mit etwa 50.000 gutbewaffneten und mit allen notwendigen Ausrüstungen versorgten Soldaten die Offensive gegen Perm, einem wichtigen Industriezentrum mit dem bekannten Motowilicha-Werk, das für die Ausrüstung der Roten Armee unverzichtbar war. Den Truppen Koltschaks stand die III. Armee mit etwa 35.000 schlecht bewaffneten Rotarmisten gegenüber, die von ehemaligen zaristischen Offizieren geführt wurden, von denen ein großer Teil zu den Truppen Koltschaks und den Tschechoslowaken überliefen. (Exakte Zahlenangaben konnte ich hierzu nicht finden. Darüber hat wohl auch niemand eine „Statistik" geführt. UH) Am 24. Dezember gelang es den Truppen Koltschaks, Perm einzunehmen und auf Wjatka vorzudringen. Die Vereinigung mit den von Norden auf Kotlas vorstoßenden Ententetruppen stand unmittelbar bevor.54)

Das ZK der Bolschewiki beschloß, eine Untersuchungskommission zu bilden, um die Ursachen für den Fall von Perm an Ort und Stelle zu klären und Maßnahmen zur Stabilisierung der Front zu treffen. Mit der Leitung der Kommission wurden auf Weisung Lenins die Volkskommissare Dzierzynski und Stalin beauftragt. Am 5. Januar 1919 trafen beide in Wjatka ein.

Die von Dzierzynski und Stalin unterzeichneten Berichte vom 5. bis 31. Januar an Lenin geben Auskunft über die von beiden Volkskommissaren getroffenen politischen und militärischen Maßnahmen.55) Aus ihnen wird ersichtlich, daß beide Genossen befähigte Führer des revolutionären Krieges waren. Diese Berichte bilden einen Beitrag zur marxistisch-leninistischen Militärtheorie. Es ist nicht möglich, anzugeben, welche Ausarbeitung nun aus der Feder von Dzierzynski und welche aus der von Stalin stammt. Es gibt im Bericht eine Bemerkung: „In der Frage der Verschmelzung der Allrussischen Außerordentlichen Kommission mit dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten ist Genosse Dzierzynski abweichender Meinung."55a) Daraus läßt sich schließen, daß beide Genossen außer dieser organisatorischen Frage miteinander übereinstimmten. Bei dem bekannten Charakter der beiden historischen Persönlichkeiten ist auszuschließen, daß einer den anderen „dominiert" habe.

Die Berichte können hier nur in Kurzform reflektiert und zusammengefaßt werden:

Die III. Armee, Sollstärke über 30.000 Mann, bestehe nur noch aus 11.000 erschöpften, schwer mitgenommenen Soldaten. - Die vom Oberbefehlshaber geschickten Truppen sind unzuverlässig, zum Teil uns feindlich eingestellt. - Es werden drei zuverlässige Regimenter angefordert. (5. Januar 1919)56)

Ursachen der Katastrophe bei Perm: Eine Armee, deren Truppen erschöpft sind, keine Reserven, keine feste Leitung hat, eine Flankenstellung einnimmt, umgangen werden kann, mußte beim ersten Druck überlegener Kräfte des Gegners auseinanderfallen. - Lage der Militärs: Zwei Regimenter haben sich gefangen gegeben - der Meuterei eines Pionierregiments konnte vorgebeugt werden - Überlaufen zum Gegner, Feindseligkeiten gegen die Rote Armee seien aus dem konterrevolutionären Geist der Regimenter zu erklären, durch alte Methoden der Aushebung und Formierung, keiner „Durchsiebung" der zum Militärdienst Einberufenen, keinerlei politische Arbeit in den Regimentern.

Fahrlässigkeiten im Obersten Stab, in den Militärkommissariaten, im Allrussischen Büro der Kommissare, im Revolutionären Kriegsrat der Armee, Desorganisation durch Leitungsgremien, mangelnde Reserven. Ein in Reserve befindliches „sowjetisches Regiment" lief beim ersten Fronteinsatz zum Gegner über.

Dokumente seien abhanden gekommen, die dafür Verantwortlichen seien übergelaufen.- Das System der Führung der III. Armee sei nach außen „vorschriftsmäßig", in Wirklichkeit fehle jede Ordnung, herrsche absolute Mißwirtschaft, sei die Führung von ihrem Kampfabschnitt, von den Divisionen, faktisch isoliert.

Maßnahmen, um den Rückzug abzubrechen: Entlastung der III. Armee durch Vorrücken der II. Armee in Richtung Kungur. - Neunhundert „völlig zuverlässige frische Kämpfer" wurden an die Front geschickt. -

Festigung des Hinterlandes. - Maßnahmen zur Verhinderung eines Umgehungsmanövers des Gegners in Richtung Wjatka wurden eingeleitet.

Die getroffenen Maßnahmen seien noch nicht ausreichend. Die ermüdeten Truppen der III. Armee können sich nicht lange halten, müssen wenigstens teilweise abgelöst werden. Zwei Regimenter seien nötig, um die Stabilität der Front garantieren zu können. Außerdem sei der Armeebefehlshaber zu wechseln; es müssen drei tüchtige politische Funktionäre hergeschickt werden; das Gebietskomitee, der Gebietssowjet und andere seien „schnellstens aufzulösen, um die Mobilisierung der evakuierten Arbeiter zu beschleunigen". (19. Januar 1919)57)

Lenin hatte zu Dzierzynski und Stalin volles Vertrauen wie aus seinem Telegramm an sie vom 14. Januar hervorgeht, in dem es ausdrücklich hieß: „...Bitte Sie beide sehr, die Durchführung der beabsichtigten Maßnahmen an Ort und Stelle persönlich zu leiten, da sonst Erfolg nicht garantiert ist."58)

In einer Rede in Wjatka vom 19. Januar erklärte Stalin, daß eine „gewisse Stabilität der Front" gesichert sei. Notwendig sei die Schaffung eines neuen Zentrums zur „Festigung und Sicherung des Hinterlandes" in Gestalt eines „Revolutionäre(n) Militärkomitee(s) von Wjatka", dessen Beschlüssen als „höchstem Organ der Sowjetmacht im Gouvernement" sich alle Institutionen und Organisationen unterzuordnen haben.59)

Aus dem umfangreichen und detaillierten Abschlußbericht der beiden Volkskommissare an Lenin60) vom 31. Januar 1919 werden hier nur die militärtheoretischen Schlußfolgerungen reflektiert, die für eine Revolutionsarmee auch heute noch unter veränderten Wirkungsbedingungen des 21. Jahrhunderts relevant sein können.

„Also, sich selbst überlassen (im Süden) und gegen Umgehungsoperationen des Gegners nicht gesichert (im Norden), erschöpft und zerrüttet, ohne Reserven und ohne ein einigermaßen gesichertes rückwärtiges Gebiet, schlecht verpflegt (29. Division) und mit miserablem Schuhwerk (30. Division), bei 35 Grad Frost, auseinandergezogen über den gewaltigen Raum von Nadeshdinski bis zum linken Ufer der Kama südlich von Ossa (über 400 Werst), (l Werst = 1066,78 m) mit einem schwachen und wenig erfahrenen Armeestab, konnte die dritte Armee dem Ansturm der überlegenen Kräfte des Gegners (fünf Divisionen), der noch dazu über ein erfahrenes Kommandeurkorps verfügt, natürlich nicht standhalten."61)

Die III. Armee habe innerhalb von 20 Tagen 18.000 Kämpfer, Dutzende von Geschützen, Hunderte von Maschinengewehren verloren. Es war dies weder ein Rückzug noch eine planmäßige Zurücknahme der Truppen auf neue Stellungen, sondern eine „regelrechte chaotische Flucht einer aufs Haupt geschlagenen und völlig demoralisierten Armee, mit einem Stab, der unfähig war, die Lage zu übersehen und sich wenigstens irgendwie auf die unausbleibliche Katastrophe einzustellen, der unfähig war, rechtzeitig Maßnahmen zu treffen, um die Armee durch Zurücknahme auf beizeiten vorbereitete Stellungen zu retten, sei es auch um den Preis von Geländeverlusten..."62)

Es folgt Kritik an dem Fehlen eines Evakuierungsplanes, an mangelnder Kontrolle der Eisenbahnverwaltung, an Bekämpfung der „geschickt organisierten Sabotage der Eisenbahnangestellten". Die Ergebnisse:

„Es wurde aller möglicher Plunder, zerbrochene Stühle und anderes Gerümpel, evakuiert, während die fertigen Züge mit den Einrichtungen und Maschinen des Motowilicha-Werkes und der Kamaflottille, die Züge mit verwundeten Soldaten und die Vorräte an raren amerikanischen Achsen sowie hunderte unbeschädigte Lokomotiven und andere Werte nicht evakuiert wurden."63)

Die Artillerie - 26 Geschütze - wurden „mit allen Gespannen ohne einen einzigen Schuß dem Gegner überlassen". Desgleichen wurde die Sprengung der Kamabrücke sowie die Vernichtung des in Perm zurückgelassenen Gutes nicht durchgeführt.64)

Zu dem Bild des allgemeinen Zerfalls und der Zerrüttung der Armee und des rückwärtigen Gebiets, der Mißwirtschaft und Verantwortungslosigkeit der Armee-, Partei- und Sowjetinstitutionen kommt noch das unerhörte, fast überall beobachtete Überlaufen einer ganzen Reihe verantwortlicher Funktionäre auf die Seite des Gegners. Der Leiter der Verteidigungsanlagen Ingenieur Banin und alle seine Mitarbeiter, der Eisenbahningenieur Adrianowski und der gesamte Spezialistenstab der Eisenbahnverwaltung, der Leiter der Abteilung Heerestransportwesen Suchorski und seine Mitarbeiter, der Leiter der Abteilung für Mobilmachung beim Gebiets-Militärkommissariat Bukin und seine Mitarbeiter, der Kommandeur des Wachbataillons Ufimzew und der Chef der Artilleriebrigade Waljushenitsch, der Chef der Abteilung für Sonderformationen Eskin und der Kommandeur des Pionierbataillons mit seinem Gehilfen, die Kommandanten der Bahnhöfe Perm I und Perm II, die ganze Registraturabteilung der Versorgungsverwaltung der Armee und die Hälfte der Mitglieder des Zentralkollegiums - sie alle und viele andere sind in Perm zurückgeblieben und zum Gegner übergelaufen.64a)

Eingehend wurde im Bericht der Zustand der III. Armee und die Frage der Reserven behandelt, wobei Dzierzynski und Stalin Mängel in der klassenmäßigen Zusammensetzung der Roten Armee der Kritik unterzogen. Sie betonten die „Mängel des Ersatzwesens". Bis Ende Mai 1918 galt der Grundsatz der Freiwilligkeit für das Ersatzwesen der Roten Armee. Dies bewirkte, daß die Armee mit Arbeitern und solchen Bauern aufgefüllt wurde, die keine fremde Arbeitskraft ausbeuteten. Daraus ergab sich „möglicherweise" die Standhaftigkeit der aus diesen Freiwilligen aufgestellten Formationen. Nach der Verkündung des Dekrets des Gesamtrussischen ZEK über die allgemeine Mobilisierung der Werktätigen für die Rote Armee vom 29. Mai 1918 übernahm der Allrussische Oberste Stab das Ersatzwesen. Er übernahm allerdings „gänzlich das System des Ersatzwesens der Zarenzeit". Er ließ „alle Eingezogenen ohne Berücksichtigung der Vermögensunterschiede in der Roten Armee dienen". Daraus erkläre sich, „daß im Ergebnis der Arbeit unserer Institutionen für das Ersatzwesen nicht so sehr eine Rote Armee als vielmehr eine ‘Volksarmee’ entstand".65)

Diese Fehler im System des Ersatzwesens wurden noch vertieft durch miserable Verpflegung, miserable Bekleidung, Fehlen von Badegelegenheiten und anderes mehr. Offiziere wurden ohne Überprüfung massenhaft zu Kommandeuren ernannt, die nicht selten ganze Truppenteile auf die Seite des Gegners hinüberbrachten. Hinzu kam das Fehlen einer „auch nur einigermaßen befriedigend organisierten politischen Arbeit in der Truppe..." So erhielt man eine „halbweißgardistische Reserve", die kaum über eine nennenswerte Kampfkraft verfügte.66)

Als Schlußfolgerungen ergäben sich:

Dem Krieg ohne Reserven muß ein Ende gemacht werden; es gilt, das System der ständigen Reserven in die Praxis einzuführen, denn ohne ständige Reserven ist nicht daran zu denken, die vorhandenen Stellungen zu halten oder Erfolge auszubauen. Ohne ständige Reserven ist eine Katastrophe unvermeidlich.

Aber Reserven können nur dann von Nutzen sein, wenn das alte System der Mobilmachung und des Ersatzwesens, das sich der Oberste Stab zu eigen gemacht hat, von Grund aus geändert und der Oberste Stab selbst in seiner Zusammensetzung erneuert wird.

Vor allem ist es notwendig, unter den Mobilisierten die Bemittelten (Unzuverlässigen) streng von den Minderbemittelten (den für den Rotarmistendienst einzig Tauglichen) zu scheiden.

Zweitens ist es notwendig, daß die an einem Ort Eingezogenen zur Formierung an einen anderen Ort geschickt werden, wobei der Abtransport an die Front nach der Regel vor sich gehen muß: „Je weiter vom heimatlichen Gouvernement, um so besser" (Verzicht auf das Territorialprinzip).

Drittens ist es notwendig, auf die Aufstellung großer, ungefüger Verbände (Divisionen), die für die Verhältnisse des Bürgerkriegs untauglich sind, zu verzichten und die Brigade zur größten Kampfeinheit zu erklären.

Viertens ist es notwendig, die Gebiets-Militärkommissariate unter strenge und ständige Kontrolle zu nehmen (wobei sie zuvor erneuert werden müssen), denn diese Kommissariate rufen durch ihre verbrecherische Nachlässigkeit bei der Unterbringung, Verpflegung und Bekleidung der aufzustellenden Truppen unter den Rotarmisten Empörung (bestenfalls Massenfälle von Fahnenflucht) hervor.

Schließlich ist eine Erneuerung des Allrussischen Büros der Kommissare notwendig, das den Truppenteilen als „Kommissare" grüne Jungen zuteilt, die absolut unfähig sind, eine auch nur einigermaßen befriedigende politische Arbeit zu organisieren.

Die Nichtbeachtung dieser Bedingungen führt dazu, daß unsere Institutionen für das Ersatzwesen nicht so sehr eine Rote Armee als vielmehr eine „Volksarmee" an die Front schicken, wobei sich das Wort „Kommissar" in ein Schimpfwort verwandelt hat.

Insbesondere ist es zur Erhaltung der Kampffähigkeit der dritten Armee absolut notwendig, sie unverzüglich mit Reserven von mindestens drei zuverlässigen Regimentern aufzufüllen.67)

Untersuchungen des Systems der Armeeführung ergaben, daß es keine Zentralisierung der Befehlsgewalt gäbe. Die Divisions- und Brigadechefs fühlten sich als „Feudalfürsten". Der Armeestab war von seinem Kampfabschnitt isoliert. Es fehlte die Koordinierung zwischen den Armeen. Ein Grund dafür erkannten die beiden Volkskommissare darin, daß der Revolutionäre Kriegsrat von der Front isoliert und die Direktiven des Oberbefehlshabers nicht durchdacht waren. Daraus ergäbe sich als Schlußfolgerung:

Die Armee kann ohne einen starken Revolutionären Kriegsrat nicht auskommen. Der Revolutionäre Kriegsrat der Armee muß aus mindestens drei Mitgliedern bestehen, von denen der eine die Versorgungsorgane der Armee, der andere die Organe der politischen Erziehung der Armee überwacht und der dritte das Kommando führt. Nur so kann ein richtiges Funktionieren der Armee gesichert werden.

Der Armeestab darf sich nicht auf die offiziellen (nicht selten unrichtigen) Berichte der Divisions- und Brigadechefs beschränken, sondern muß seine eigenen Vertreter - Vertrauensleute - haben, die den Armeestab regelmäßig informieren und die exakte Ausführung der Befehle des Armeebefehlshabers genau überwachen. Nur so läßt sich die Verbindung des Stabs mit der Armee sichern, die faktische Autonomie der Divisionen und Brigaden liquidieren und eine wirkliche Zentralisierung der Armee zustande bringen.

Die Armee kann nicht als eine auf sich selbst gestellte, völlig autonome Einheit operieren, sie ist in ihren Operationen ganz und gar von den Nachbararmeen und vor allem von den Direktiven des Revolutionären Kriegsrats der Republik abhängig: die kampffähigste Armee kann unter sonst gleichen Bedingungen zusammenbrechen, wenn die Direktiven des Zentrums nicht richtig sind und kein wirklicher Kontakt mit den Nachbararmeen vorhanden ist. An den Fronten und vor allem an der Ostfront muß ein System hergestellt werden, das eine strenge Zentralisierung der Operationen der einzelnen Armeen gewährleistet, damit eine bestimmte, ernstlich durchdachte strategische Direktive verwirklicht wird. Die Willkür oder die Unüberlegtheit bei der Festlegung der Direktiven ohne ernstliche Berücksichtigung aller Momente und der hieraus entspringende schnelle Wechsel der Direktiven sowie die Unbestimmtheit der Direktiven selbst, wie es der Revolutionäre Kriegsrat der Republik zuläßt, machen eine Führung der Armeen unmöglich, haben eine Vergeudung von Kräften und Zeit zur Folge und desorganisieren die Front. Der Revolutionäre Kriegsrat der Republik muß in eine nur aus wenigen Mitgliedern bestehende, mit den Fronten fest verbundene Gruppe, sagen wir, von fünf Personen, umgewandelt werden (zwei von ihnen sollten Spezialisten sein, der dritte die Zentralverwaltung für Versorgung überwachen, der vierte den Obersten Stab, der fünfte das Allrussische Büro der Kommissare), die genügend Erfahrung besitzen, um bei der Führung der Armeen keine Willkür und keinen Leichtsinn zu dulden.68)

In den weiteren Abschnitten folgten die Ergebnisse der Untersuchung der Lage der rückwärtigen Gebiete sowie der Versorgungs- und Evakuierungsorgane sowie die daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen.69) Sie sind nur soweit von theoretischer Bedeutung, als sie auf die Festigung des Hinterlandes, auf die Versorgung der Armee, den Nachschub und - gegebenenfalls für den Rückzug, den Abtransport wichtiger materiell-technischer, kriegswichtiger Güter Bezug nehmen, während die Einzelheiten auf die konkret-historische Situation zutreffen und nicht verallgemeinert werden können.

In den Schlußfolgerungen heißt es, daß ohne Stabilität des rückwärtigen Gebietes keine Armee erfolgreich operieren kann. Dafür sei notwendig:

„1. den örtlichen Parteiorganisationen eine strenge regelmäßige Rechenschaftslegung vor dem ZK zur Pflicht zu machen; den örtlichen Parteiorganisationen regelmäßig Rundschreiben des ZK zugehen zu lassen; beim Zentralorgan eine Presseabteilung zur Anleitung der Parteipresse der Provinz zu organisieren; eine Schule für Parteifunktionäre (hauptsächlich aus den Reihen der Arbeiter) zu schaffen und für richtige Verteilung der Funktionäre zu sorgen. Mit alledem ist ein aus Mitgliedern des ZK zu bildendes Sekretariat des ZK der Partei zu beauftragen;

2. den Zuständigkeitsbereich zwischen dem ZEK und dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten in bezug auf die Leitung der laufenden Arbeit der Deputiertensowjets streng abzugrenzen, die Allrussische Außerordentliche Kommission mit dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten zu verschmelzen (In der Frage der Verschmelzung der Allrussischen Außerordentlichen Kommission mit dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten ist Genosse Dzierzynski abweichender Meinung.), dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten die Verpflichtung aufzuerlegen, die richtige und rechtzeitige Durchführung der Dekrete und Anordnungen der Zentralmacht durch die Deputiertensowjets zu überwachen; die Deputiertensowjets der Gouvernements zu verpflichten, regelmäßig Rechenschaft vor dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten abzulegen; das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten zu verpflichten, die Deputiertensowjets regelmäßig mit den notwendigen Anweisungen zu versehen; bei den „Iswestija WZIK" eine Presseabteilung zur Anleitung der Sowjetpresse in der Provinz zu organisieren;

3. beim Verteidigungsrat eine Kontroll- und Revisionskommission einzusetzen, die die „Mängel im Mechanismus" der Volkskommissariate und der entsprechenden Abteilungen sowohl im Hinterland als auch an der Front zu untersuchen hat."70)

Es ging bezüglich der Festigung des rückwärtigen Gebietes vor allem um die Durchsetzung einer straffen, zentralisierten Verwaltung, einer politischen Führung. Die Ausbildung und politische Erziehung von Verwaltungsfunktionären aus den Reihen der Arbeiter seien erforderlich. Nur so sei die Versorgung der Armee mit Nachschub und eine geregelte, planmäßige Evakuierung von kriegswichtigen Gütern, ein planmäßiger, geregelter Rückzug der Armee, wenn erforderlich, möglich.71)

Abschließend über die Tätigkeit der Kommission noch einige Bemerkungen über deren Reflektion in der sowjetischen Geschichtsliteratur nach der berüchtigten „Geheimrede" Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU (14. - 25. Februar 1956). In der „Geschichte der UdSSR 1917 - 1970" von I.B. Bershin heißt es richtig, daß die vom ZK der KPR (B) und dem Verteidigungsrat eingesetzte „spezielle Untersuchungskommission" unter der Leitung von F.E. Dzierzynski und J.W. Stalin stand.72) In der sechsbändigen Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion wird nur von einer „Parteiuntersuchungskommission" gesprochen, „über deren Arbeit sich Lenin ständig informierte". „Ihr gehörten die Mitglieder des ZK Dzierzynski und Stalin an." Wer die Leitung der Kommission hatte, bei wem sich Lenin ständig informierte, bleibt offen. In der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Moskau 1959/Berlin 1960) und in der gleichnamigen Ausgabe (Moskau 1969/Berlin 1971) wird der Kommission eine „bedeutende Rolle" bei der Stabilisierung der Front im Raum Perm zugebilligt, aber auch nach diesen Ausführungen, gehörten Dzierzynski und Stalin der Kommission eben nur an, wer sie geleitet hat, darüber kein Wort.73) Wahrscheinlich stand die Kommission unter Leitung des Erzengels Gabriel, bei dem sich Lenin „ständig informierte".

Diese bedenkliche Art der Auslassung, die schon an Geschichtsfälschung grenzt, ist ein Ergebnis des Revisionismus Chruschtschows auf die sowjetische Geschichtswissenschaft.

Auf dem VIII. Parteitag der KPR (B) (18. - 23. März 1919) zog Stalin in seiner Rede zur Militärfrage Schlußfolgerungen aus dem bisherigen Verlauf des Bürger- und Interventionskrieges, nicht zuletzt aus den Ergebnissen der Untersuchungskommission über den Fall von Perm. Es ging um die Frage „Freiwilligenarmee" oder „reguläre Armee".

Im Bericht der Untersuchungskommission an Lenin vom Februar 1919 wurde der Grundsatz der Freiwilligkeit noch partiell positiv eingeschätzt, wenn „nebenbei bemerkt", „die Standhaftigkeit der Formationen aus der Freiwilligenzeit möglicherweise gerade hiermit zu erklären" sei.74) Die Einschränkung „möglicherweise" ist dabei unübersehbar. Die Standhaftigkeit dieser Verbände erklärte sich aus ihrer Zusammensetzung, Arbeiter und Bauern, die keine fremden Arbeitskräfte beschäftigten, also der armen Bauernschaft. In seiner Rede auf dem Parteitag unterzog Stalin die Freiwilligenarmee einer scharfen Kritik.

Nach dem Zerfall der alten, zaristischen Armee wäre eine Freiwilligenarmee aufgestellt worden, die aber „schlecht organisiert, kollektiv geleitet wurde und den Befehlen nicht immer Folge leistete". Innerhalb der Leitung der Armee herrschte Desorganisation. Die Folge dieser Mängel waren Niederlagen an den Fronten.

Diese Tatsachen würden bezeugen, „daß eine Freiwilligenarmee keiner Kritik standhält". Sie sei nicht imstande, die Republik zu verteidigen. Nur eine „reguläre Armee, die vom Geiste der Disziplin durchdrungen ist, eine gut organisierte politische Abteilung besitzt, ..." sei fähig und in der Lage, „sich auf den ersten Befehl hin gegen den Feind in Marsch zu setzen".75)

Die Konzeption einer regulären, disziplinierten Armee war auf dem Parteitag heftig umstritten. So vertraten einige kommunistische Zellen in der Armee, die Auffassung, ihre Funktionen zu erweitern und die Kontrolle über die gesamte Tätigkeit der Armee zu übernehmen, als „Parteisyndikalismus" bezeichnet.76)

Ehemalige „linke Kommunisten" formierten einen Oppositionsblock, der unter Führung von W.M. Smirnow stand, der gegen den Aufbau einer regulären Armee polemisierte. Die „linken Kommunisten" meinten, daß man den bürgerlichen Militärspezialisten keine Kommandofunktion anvertrauen dürfe, den Kriegskommissaren „größere Rechte" einräumen, sie „stärker an der Leitung der Armee" beteiligen müsse. Die neuen Dienstvorschriften der Armee, so der Genosse Smirnow, würden eine „kleinliche Reglementierung" in das militärische Leben hineintragen, den Kommandeuren Privilegien einräumen. Allen Militärangehörigen seien die gleichen Rechte zu gewähren. Die Konzeption der Mititäropposition war unhaltbar. Sie würde jede Armee zugrunderichten.77)

Die Militäropposition war jedoch kein einheitlicher Block. Es gab innerhalb dieser Opposition sehr unterschiedliche, vom „Kern" um Smirnow abweichende Meinungen. Smirnow konnte sich zunächst, nach Umarbeitung einiger Thesen seiner Konzeption, durchsetzen. Erst auf der Plenartagung am Abend des 21. März, nachdem ein Vertreter der Militärverwaltung mitgeteilt hatte, daß der Roten Armee 60 Prozent der erforderlichen militärischen Fachleute fehlten, in die Armee stärker erfahrene Kommandeure und Spezialisten für alle Gebiete des Militärwesens einbezogen werden müssen, konnten sich Lenin, Sokolnikow und Stalin durchsetzen.78)

Natürlich war die Einbeziehung von Offizieren der alten zaristischen Armee ein ernstes Problem. Überlaufen, Verrat ehemaliger Offiziere waren eine Tatsache. Andererseits gab es Tausende ehemaliger Offiziere, die in der Roten Armee gewissenhaft dienten, ihre militärischen Fähigkeiten in die Armee einbrachten. Diese Offiziere waren nicht immer Kommunisten, aber sie waren russische Patrioten, die gegen die ausländischen Interventen kämpften. Es gehörte zu den Stärken Stalins, die nationale Komponente auch im Bürgerkrieg erkannt zu haben, während nicht wenige Kommunisten die nationale Frage als historisch „längst" überholt betrachteten. Die nationale Frage wurde und wird auch heute noch immer wieder unterschätzt. Der Fehler der „linken Kommunisten" bestand darin, daß sie das Überlaufen von ehemaligen Offizieren verallgemeinerten, verabsolutierten und nicht die Widersprüchlichkeit dieser gesellschaftlichen Erscheinung verstanden. Bisher habe ich keine Statistik finden können, um das Verhältnis von treu dienenden Offizieren und Überläufern ermitteln zu können. Es kommt für die Rote Armee noch ein spezieller Faktor hinzu: im Offizierskorps gab es nicht wenige Anhänger Trotzkis, sowohl unter ehemaligen als auch unter Offizieren, die aus der Arbeiterklasse neu dazu gekommen waren. Dieser letztere Widerspruch sollte sich vor allem dann in den folgenden Jahren, als die Auseinandersetzung zwischen Stalin und Trotzki an Schärfe zunahmen, zuspitzen, der zur Zerstörung der Roten Armee führen konnte.

In der Militäropposition befanden sich auch Genossen, die annehmbare Anträge einbrachten. Die beachtliche Unterstützung der Opposition erklärte sich nicht zuletzt aus dem Verhalten Trotzkis als dem Leiter der Militärverwaltung. Er ignorierte nicht selten die Rechte „der Kommissare, verhielt sich ihnen gegenüber geringschätzig und ließ in den Beziehungen zu den kommunistischen Armeeangehörigen Herrschsucht walten. Mit seinem herrischen Auftreten und seinen diktatorischen Allüren brachte Trotzki viele Kommunisten, die in der Armee Funktionen ausübten, gegen sich persönlich auf und gab ihnen Anlaß, ihm zu mißtrauen... Dies zeigte sich ... auch bei der Wahl der Mitglieder des ZK. Gegen die Kandidatur Trotzkis stimmten 50 Delegierte."79)

Zu den Ursachen für Niederlagen der Roten Armee an den Fronten des Bürger- und Interventionskrieges gehörte auch ihre klassenmäßige Zusammensetzung. Die Mehrheit der Armee, so Stalin, bestehe aus Bauern, nicht aus Arbeitern; Bauern, die „nicht freiwillig für den Sozialismus kämpfen werden. Eine ganze Reihe von Tatsachen weist darauf hin. Mehrere Meutereien im Hinterland und an den Fronten zeigen ebenso wie eine Reihe von Ausschreitungen an den Fronten, daß die nichtproletarischen Elemente, die in unserer Armee die Mehrheit bilden, nicht freiwillig für den Kommunismus kämpfen wollen." Daraus resultiere die Aufgabe, „diese Elemente im Geiste einer eisernen Disziplin zu erziehen, ..." daß sie sich im Hinterland und an der Front „der Führung des Proletariats anvertrauen, ..." Man müsse sie „zwingen, für unsere gemeinsame sozialistische Sache zu kämpfen..." Im Laufe des Krieges müsse der Aufbau einer „wirklichen regulären Armee" vollendet werden, „die allein imstande ist, das Land zu verteidigen."

Wenn dies nicht gelinge, „dann ist unsere Sache zugrunde gerichtet."80)

Die Militärfrage war damit noch nicht endgültig beantwortet. Bereits auf dem VII. Parteitag (6. bis 8. März 1918), bei Beginn des Krieges, wurde im Programmentwurf auf die „Umwandlung" der „Klassenarmee" in eine „sozialistische Volksmiliz" hingewiesen, allerdings erst mit der Beseitigung der Klassen.81)

In dem auf dem VIII. Parteitag der KPdSU (B) beschlossenen Programm, § 10/1 heißt es: „In der Epoche des Zerfalls des Imperialismus und des sich ausbreitenden Bürgerkrieges ist weder die Beibehaltung der alten Armee, noch der Aufbau einer neuen Armee auf der sogenannten über den Klassen stehenden oder gesamtnationalen Grundlage möglich. Die Rote Armee muß als Werkzeug der proletarischen Diktatur notwendig offenen Klassencharakter tragen, d.h. sie muß sich ausschließlich aus dem Proletariat und den ihm nahestehenden Schichten der Bauernschaft rekrutieren. Erst in Verbindung mit der Beseitigung der Klassen wird sich diese Klassenarmee in eine sozialistische Volksmiliz verwandeln."82)

Die Ausbildung in Kasernen war verpönt. Offenbar spielten üble Erfahrungen mit der alten Militärausbildung im Zarismus hierbei eine Rolle. So sollte die rein kasernenmäßige Ausbildung nur „eine möglichst kurze Frist" einnehmen. Die Kasernen sollten dem „Typ der Militär- und militärpolitischen Schulen" angeglichen, eine „möglichst enge Verbindung der militärischen Formationen mit den Fabriken, Werken, Gewerkschaften und den Organisationen der Dorfarmut" hergestellt werden.83)

Gegenüber der bürgerlichen Armee war die einstige Forderung nach Wählbarkeit der Kommandeure von „gewaltiger prinzipieller Bedeutung." Für die Rote Armee als proletarischer „Klassenarmee" habe diese Losung ihre Bedeutung „vollkommen" verloren.84) Dies war völlig klar: Die Wählbarkeit der Kommandeure gehört zu den sichersten Mitteln, jede Armee zu zersetzen, zu zerstören. Welcher Soldat wird einen strengen Offizier, der aber ein tüchtiger Militärfachmann ist, wählen und nicht einen liberalen Offizier vorziehen, auch wenn dieser von der Kriegführung nichts versteht? Gegenüber der bürgerlichen Armee hatte eine solche Losung einen politischen Sinn, nämlich das wichtigste Repressivorgan des bürgerlichen Staates zu zersetzen. Es ist daher auch kein Wunder, wenn die konterrevolutionären Kräfte diese Forderung gegenüber der Roten Armee aufstellten, was bei einem Teil der Rotarmisten auch Sympathien erwecken konnte. Die Forderung nach „Demokratisierung" der Streitkräfte der sozialistischen Staaten, die Losung „Schwerter zu Pflugscharen" wurde denn auch in den 80er Jahren von den konterrevolutionären Demagogen erhoben - eben, für die sozialistischen Staaten! - während in den imperialistischen Staaten vor allem die qualitative Auf- und Umrüstung der Streitkräfte munter weiterging, natürlich „mit parlamentarischem Konsens". Der Ruf nach „Demokratisierung" von dieser Seite ist die Kreide, die der Wolf gefressen hat.

In den Resolutionen des IX. Parteitages der KPR (B) (29. März - 5. April 1920) wurde erneut ausführlich auf den „Übergang zum Milizsystem" orientiert. Er sollte „allmählich" vollzogen werden, „entsprechend der militärischen und international-diplomatischen Lage der Sowjetrepublik, wobei unbedingte Voraussetzung ist, daß die Verteidigungsfähigkeit der Republik in jedem beliebigen Augenblick auf der gebührenden Höhe steht."85) Im abschließenden Satz heißt es: „Die Miliz, die sich auf der Linie der Verwandlung in das bewaffnete kommunistische Volk entwickelt, muß in der gegenwärtigen Periode in ihrer Organisation alle charakterlichen Merkmale der Diktatur der Arbeiterklasse bewahren."86)

Die Umwandlung der Roten Armee in eine Miliz, und diese in das „bewaffnete kommunistische Volk" mochte in dieser Zeit, in der die Hoffnung auf die Revolution in Europa, wenn auch nur schwach, noch vorhanden war, die Sowjetrepublik sich im Bürger- und Interventionskrieg behauptet hatte, verständlich sein. Sie erwies sich jedoch als illusorisch. Sie konnte nie, zu keiner Zeit realisiert werden, denn die imperialistischen Hauptmächte, auch die kleinen kapitalistischen Staaten, standen von Anfang an der Sowjetrepublik, ab Dezember 1922 der Sowjetunion, bis an ihr Ende unverändert feindlich gegenüber.

Wenn die Aufhebung der Klassen und eine siegreiche Weltrevolution Voraussetzungen für ein „bewaffnetes kommunistisches Volk" waren, dann ergibt sich die Frage, wozu dann noch eine Miliz, ein „bewaffnetes Volk?" Der Stand der Militärtechnik in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts mochte eine Miliz für konventionelle Truppen noch ermöglicht haben, mit der Einführung moderner Technik, für Luftstreitkräfte und Kriegsmarine wurde ein Milizsystem ohnehin illusorisch. Etwas anderes ist die Ausbildung von Reservisten, Reserveoffizieren und -unteroffizieren, die in regelmäßigen Zeitabständen zu Übungen und zur Ausbildung an neuen Geräten/Waffen einberufen werden, wie sie in allen modernen Streitkräften seit Ende des 19. Jahrhunderts üblich ist. Ein solches System kann natürlich nicht an das Heimatgebiet der einberufenen Reservisten, an seine Produktionsstätten, Betrieb etc. gebunden sein. Etwas anderes sind die sogenannten „Nationalgarden", Frankreich, USA u.a., die jedoch nur innere Aufgaben haben. Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse in der DDR die an bestimmte Territorien, Betriebe etc. gebunden waren, könnte man als „Miliz der Diktatur der Arbeiterklasse" betrachten, aber sie waren keine reguläre Armee. Sie hätten keine Aggression einer imperialistischen Armee abwehren können, was auch nicht ihre Aufgabe war.

Im Frühjahr 1919 geriet die Sowjetrepublik in eine sehr gefährliche Lage. Koltschak war zwar im Raum Perm zurückgeschlagen worden, er konnte jedoch in Sibirien durch neue Einberufungen und mit Ausrüstungen der Ententemächte eine Armee von 400.000 Mann aufstellen, mit der er sich erneut der Wolga näherte.

Im Süden hatten die weißgardistischen Truppen unter Denikin den Nordkaukasus, das Kuban-Gebiet und fast das ganze Donezgebiet besetzt. Die Armee Denikins stieß ebenfalls in Richtung Wolga vor, wo sie sich mit der Armee Koltschaks zum Vormarsch auf Moskau vereinigen sollte. Im Westen griffen polnische Armeen die Litauisch-Belorussische Republik an, besetzten Wilna, Brest und Baranowitschi. In Lettland gelang es weißgardistischen Truppen unter dem General Rodsjanko, die Sowjetmacht zu stürzen. Vor Petrograd standen Truppen Judenitschs, von der Seeseite unterstützt von einem englischen Flottenverband.

Die englische Presse frohlockte bereits, daß der Sturz der Sowjetmacht in Rußland unmittelbar bevorstehe.87)

Der Verteidigungsrat der Republik beorderte am 17. Mai 1919 Stalin mit außerordentlichen Vollmachten an die Westfront, um die Verteidigung Petrograds gegen die Offensive Judenitschs und Rodsjankos zu organisieren. In einem Fernspruch über die direkte Leitung88) berichtete Stalin an Lenin über seltsame Vorkommnisse in Petrograd: Weder der Oberbefehlshaber der Front noch sein Stabschef kennen die Truppen, die nach Petrograd geschickt werden. Der Oberbefehlshaber habe vorgeschlagen, die Flotte wegen der Brennstoffkrise zu reduzieren. Stalin habe sich mit den Marinefunktionären beraten. Es erwies sich, daß der Vorschlag des Oberbefehlshaber „völlig falsch" war. Neben fraglichen Argumenten, daß die großen Einheiten ihre Artillerie nicht einsetzen könnten, daß keine Granaten großen Kalibers vorhanden wären, wurden zwölf Lastkähne mit Geschossen „entdeckt". Die Brennstoffkrise ginge vorüber, denn sie hätten 420.000 Pud (lPud = 16,38 kg) Kohle, Heizöl nicht eingerechnet, aufspeichern können. Die Flotte würde zunehmend zu einer „wirklichen Flotte mit disziplinierten Matrosen" werden, die „bereit sind, Petrograd mit aller Kraft zu verteidigen." Die vorhandenen Marinekräfte würden ausreichen, „Petrograd vor jeglichen Anschlägen von der Seeseite her mit Ehren" zu verteidigen: Wie alle Petrograder Genossen bestünde er auf Ablehnung der Vorschläge des Oberbefehlshabers.89)

In diesem Fernspruch war noch nicht von Verrat die Rede. Lenin bestätigte den Erhalt „beider" Mitteilungen und orientierte auf „strenge Kontrolle" sowie darauf, daß die „allgemeine Mobilmachung der Petersburger ... zum Angriff" führe „und nicht zum Hocken in den Kasernen".90) In einem weiteren Telegramm an Lenin vom 16. Juni 1919 berichtete Stalin über die Einnahme der Forts Krasnaja Gorka und Seraja Loschadj, in denen es Weißgardisten, Menschewiki und linken Sozialrevolutionären gelungen war, die Garnison zu einer Meuterei aufzustacheln. Die Einnahme erfolgte von der Seeseite aus, was nach dem Stand der „Marinewissenschaft" angeblich nicht möglich sei. Durch sein rücksichtsloses Eingreifen und dem der Zivilisten in die operativen Dinge wurden die Befehle zu Wasser und zu Lande aufgehoben und „unsere eigenen auf gezwungen."91)

Auch hier war von Verrat noch keine Rede.

In einem Telegramm Lenins an Stalin vom 29. Mai deutete Lenin darauf hin, „daß es in unserem Hinterland und vielleicht sogar an der Front selbst organisierten Verrat" gäbe. „Der Feind scheint völlig sicher zu sein, daß es uns an halbwegs organisierten militärischen Kräften für den Widerstand fehlt, und außerdem auf Hilfe aus dem Hinterland zu rechnen." Lenin erwähnte Brände, Brückensprengungen, Meutereien und wies darauf hin, „diesen Umständen größte Beachtung zu schenken und außerordentliche Maßnahmen zur Aufdeckung der Verschwörungen zu ergreifen."92)

Im Fernspruch über die direkte Leitung zu Lenin (18. Juni 1919) sowie ausführlicher in einem Interview mit einem Korrespondenten der Prawda vom 8. Juli 1919 berichtete Stalin über die Ereignisse an der West- und Nordfront.

Als erstes verglich er Koltschak mit Rodsjanko und schätzte deren militärischen Möglichkeiten ein; Koltschak sei der „ernsteste Gegner", denn er habe „genügend Raum zum Rückzug, genügend Menschenmaterial für die Armee und ein getreidereiches Hinterland. Im Vergleich zu Koltschak sei Rodsjanko „eine Mücke", denn er habe „weder Getreide im Hinterland noch Raum zum Rückzug, noch auch genügend Menschenmaterial."

Rodsjankos Aushebung von zwanzig Jahrgängen würde ihn „ins Grab bringen, da die Bauern eine derartige Mobilmachung nicht aushalten und sich unweigerlich von Rodsjanko abwenden werden.93)

In diesem Zusammenhang wandte sich Stalin gegen die Anweisung des Oberbefehlshaber der Roten Armee, zu dieser Zeit I.I. Wazetis, an den Revolutionären Kriegsrat der Ostfront, die Offensive gegen Koltschak einzustellen und den größten Teil der Divisionen an die Südfront zu werfen, an der die sowjetischen Truppen ernsthaft von Denikin bedroht wurden. Dieser Plan von Wazetis fand auch die Unterstützung Trotzkis. Koltschak war noch nicht geschlagen, und die Durchführung dieser verhängnisvollen Weisung hätte ihm die Möglichkeit gegeben, neue Reserven aus Sibirien heranzuführen und, gestützt auf die Industrie des Urals, eine neue Offensive einzuleiten.94) In seinem Fernspruch bemerkte Stalin mit Nachdruck, daß „auf keinen Fall Truppen für die Petrograder Font von der Ostfront in solcher Stärke abgezogen werden, die uns zwingen könnte, die Offensive an der Ostfront (gegen Koltschak, UH) einzustellen."95)

Nun war in dem Plan Wazetis/Trotzki nicht nur von der Verstärkung der Südfront durch den Abzug des größten Teils der Divisionen von der Ostfront die Rede, sondern auch die Westfront sollte auf Kosten der Schwächung der Ostfront verstärkt werden.

„Um Rodsjanko an die estnische Grenze zu drücken", weiter brauche man nicht zu gehen, genüge „eine Division, deren Abberufung nicht die Unterbrechung der Offensive an der Ostfront zur Folge haben würde."96)

Stalin hatte demnach nicht nur die West- und Nordfront im Auge, sondern alle Fronten des Krieges insgesamt, vor allem die Ostfront, die zu dieser Zeit die Hauptfront war. Koltschak war im Sommer 1919 der gefährlichste Feind der Sowjetrepublik. Auf Beschluß des Plenums des KK der KPR (B) vom 3. Juli 1919 löstet Sergej Sergejewitsch Kamenew (nicht zu verwechseln mit Lew Kamenew, UH) Wazetis96a) als Oberkommandierenden der Streitkräfte der Republik ab. Am 13. Juli wurde M.W. Frunse zum Oberkommandierenden der Ostfront ernannt.97)

Wenn Rodsjanko im Vergleich zu Koltschak „eine Mücke" war, der mit eigenen Kräften Petrograd nicht einnehmen konnte, wodurch waren er und Judenitsch gefährlich?

Die Ursachen hatte Lenin bereits angedeutet. Es gab eine große konterrevolutionäre Verschwörung in der Gegend von Kronstadt, die aufgedeckt werden konnte. Ihr Ziel war, die Festung „in die Hände zu bekommen, sich die Flotte gefügig zu machen, unsere Truppen im Rücken unter Feuer zu nehmen und Rodsjanko den Weg nach Petrograd freizulegen. Wir haben die entsprechenden Dokumente in Händen."98)

Aus dieser Verschwörung erkläre sich, warum Rodsjanko mit „verhältnismäßig geringen Kräften so frech auf Petrograd" vorstieß, „die Unverfrorenheit der Finnen", „das Massenüberlaufen unserer aktiven Offiziere", sowie die „seltsame Erscheinung", daß im Augenblick des Verrats von Krasnaja Gorka die englischen Schiffe „irgendwohin verschwanden". Die Engländer wollten offenbar sich nicht „direkt in die Sache einmischen (Intervention!)" sondern erst später auftauchen, „nachdem die Festung und die Flotte in die Hand der Weißen übergegangen" sei, um „‘dem russischen Volk zu helfen’, eine neue ‘demokratische Ordnung’ einzurichten."99)

Stalin hatte den Zusammenhang zwischen Konterrevolution, imperialistischer Intervention und die Segnungen einer neuen „demokratischen Ordnung" recht gut erkannt. Was er zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch nicht wußte, war, daß hinter der englischen Flotte der Kriegsminister Großbritanniens, Winston Churchill, stand, der bereits zu dieser Zeit den Bolschewismus noch in der Wiege ermorden wollte. Der Name Churchill fand bei Stalin noch keine Erwähnung. Die englischen Arbeiter kämpften unter der Losung „Hände weg von Sowjetrußland" gegen eine offene Intervention Englands, was Churchill zwang, zu subversiven Mitteln Zuflucht zu nehmen.

Die Losung der „Demokratie", mit der imperialistische Interventionskriege als „humanitäre Aktionen" drapiert werden, ist also nichts Neues.

Der ganze Plan Rodsjankos und Judenitschs stützte sich auf einen „erfolgreichen Ausgang der Verschwörung." Alle Fäden der Verschwörung werden von England gezogen, über die italienische, schweizerische und dänische Botschaft finanziert. Stalin ersuchte Lenin, dem „verhafteten Personal der Botschaften keinerlei Vergünstigungen zu gewähren, alle diese Beamten bis zum Abschluß der Untersuchung, die neue aufschlußreiche Fäden aufdeckt, unter strengem Regime zu halten".100)

In Ergänzung zu dem Fernspruch nannte Stalin noch die französische, die griechische, holländische, rumänische und andere Botschaften, die in diese Verschwörung verwickelt waren.

In einigen Botschaften wurden Maschinengewehre und Gewehre, in der rumänischen Botschaft sogar ein Geschütz, sowie geheime Telefonanlagen gefunden. „Diese Herrschaften warfen nach rechts und links mit Geld um sich und bestachen alles nur Bestechliche im Hintergrund unserer Armee". Der „käufliche Teil des russischen Offizierskorps" sei zu den Feinden übergelaufen. Wie sich später herausstellte, hätten „die vom Petrograder Proletariat gekränkten Ehemaligen, die Bourgeois und Gutsbesitzer ... Waffen angesammelt", um in einem günstigen Moment „unseren Truppen in den Rücken zu fallen". In den Bourgeoisvierteln Petrograds seien 4.000 Gewehre und mehrere hundert Sprengkörper gefunden worden.101)

Abschließend zu den Fragen der West- und Nordfront sei noch auf ein Telegramm Lenins an das Verteidigungskomitee von Petrograd, für Sinowjew, vom 14. Mai 1919, aufmerksam gemacht, in dem ersucht wurde um „erschöpfende Beantwortung folgender Fragen: aus welchen Erwägungen heraus wurde beschlossen, einige Betriebe Petrograds und der Umgebung zu evakuieren, von wem und aus welchem Grund wurde angeordnet, die Schiffe zu versenken, wie hoch ist die Gesamtzahl der mobilisierten und der in den Betrieben verbliebenen Arbeiter, werden wirklich alle Mobilisierten für Verteidigungszwecke eingesetzt, wie kam es zu der Einsetzung von Kommissaren für die staatlichen Betriebe, wurde eine wahllose Aushebung der Bürger vorgenommen oder wurde dabei die Verfügung der Zentralgewalt beachtet?"102)

Als Mitglied des Zentralkomitees der Partei trug Sinowjew hohe politische Verantwortung für die Verteidigung Petrograds. Ob er und Anhänger Trotzkis (Sinowjewleute und Trotzkisten) tatsächlich die Verteidigung Petrograds sabotieren und die Stadt dem Feind ausliefern wollten, wie in der Fußnote zu Lenins Telegramm behauptet wird103), oder ob Unfähigkeit Sinowjews zur Desorganisation der Verteidigung geführt haben, muß ich hier offen lassen. Zumindest hat Sinowjew verantwortungslos gehandelt, ein im Krieg unverzeihliches Verbrechen. Der Plan zur Evakuierung der Stadt und zur Versenkung von Einheiten der Kriegsflotte bestand. In der Aufdeckung der Verschwörung und in der Berichterstattung Stalins wird Sinowjew nicht erwähnt. Wäre er darin verwickelt gewesen, hätte Stalin ihn mit Sicherheit genannt. In der „Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion" (Bolschewiki) (Kurzer Lehrgang) bleibt bezüglich der Verteidigung Petrograds Sinowjew ebenfalls unerwähnt.104)

Am 26. September 1919 wird Stalin auf Beschluß des Zentralkomitees der KPR (B) an die Südfront kommandiert, wo er die Verteidigung gegen die Armeen Denikins organisieren soll. Am 27. September wird er zum Mitglied des Kriegsrates der Südfront ernannt. Kurz nach seiner Ankunft am 3. Oktober im Hauptquartier der Südfront in Serpuchow unterbreitete Stalin in seinem Brief an Lenin vom 15. Oktober104a) seinen Plan zur Zerschlagung der Truppen Denikins, wobei er auch hier politische und nationale Faktoren in Rechnung stellte.

Nach der Direktive des Oberbefehlshaber der Südfront - an dessen Zustandekommen noch Trotzki mitgearbeitet hatte, der inzwischen von der Südfront abberufen worden war - sollte die Offensive gegen Denikin aus dem Bezirk Zarizyn durch die Donsteppen nach Noworossisk geführt werden. Dieser „irrsinnige (geplante) Feldzug in einer uns feindlichen Umgebung, angesichts der völligen Wegelosigkeit", bedroht uns „mit völligem Zusammenbruch..." „Dieser Feldzug gegen Kosakenstanzias" wäre geeignet, „die Kosaken zur Verteidigung ihrer Stanizas gegen uns um Denikin zusammenzuschließen, ... Denikin als Retter des Dons hinzustellen, ... eine Kosakenarmee für Denikin zu schaffen, ... Denikin zu stärken."105)

Stalins Plan sah vor, den „Hauptschlag aus dem Bezirk Woronesh über Charkow und das Donezbecken auf Rostow" zu führen. Statt einer feindlichen hätten wir hier erstens „eine mit uns sympathisierende Umgebung", die „unser Vorrücken erleichtern" würde. Zweitens bekämen wir das „äußerst wichtige Eisenbahnnetz (im Dongebiet) und die Hauptnachschubader für die Denikinarmee, die Strecke Woronesh - Rostow in die Hand." Drittens würde die Denikinarmee dadurch in zwei Teile gespalten, „von denen wir die Freiwilligenarmee Machno (kulakisch-anarchistische Bande, die ihr Unwesen im Süden Rußlands und der Ukraine trieb. UH) zum Fraß überlassen, die Kosakenarmeen aber der Gefahr der Umgehung aussetzen." Wir erhielten viertens die Möglichkeit, „die Kosaken mit Denikin zu verfeinden." Im Fall unseres erfolgreichen Vorrückens würde Denikin sich bemühen, die Kosakentruppen nach dem Westen zu werfen. Die Mehrheit der Kosaken würde darauf nicht eingehen, wenn wir ihnen „zu dieser Zeit die Frage des Friedens, der Friedensverhandlungen und andere mehr stellen." Wir bekommen fünftens Kohle, aber Denikin bleibt ohne Kohle.106)

Der Plan Stalins wurde angenommen. Wie aus dem Telegramm an Lenin vom 25. Oktober ersichtlich, zeigten sich erste Erfolge: Das Reiterkorps Budjonnys zerschlug die Reiterkorps Denikins und nahm Woronesh.107)

Aufschlußreich ist sein Artikel „Zur militärischen Lage im Süden" in der Prawda vom 28. Dezember 1919.108)

Im Abschnitt I faßte er die Niederlagen der Entente- und konterrevolutionären Truppen an allen Fronten des Jahres 1919 zusammen. Deren Plan, wie ihn Denikin formulierte, „den Bolschewismus durch Wegnahme seiner Hauptzentren, Moskau und Petrograd, mit einem Schlag zu erdrosseln", oder, wie General Maj-Majewski erklärte, „spätestens Ende Dezember, zu Weihnachten 1919" in Moskau zu sein, ging nicht auf. (Dies war auch 22 Jahre später einem anderen „großen" Feldherrn nicht gelungen.)

Stalin resümierte: „Rußland blieb auch diesmal heil und unversehrt."109)

Im Abschnitt II, dem Hauptabschnitt, analysierte Stalin die Ursachen für die Niederlage der Konterrevolution, vor allem Denikins:

A. „Die Unzuverlässigkeit des Hinterlandes der konterrevolutionären Truppen."

Auf die Rolle des Hinterlandes im Kriege hatte Stalin schon in anderen Arbeiten hingewiesen. „Keine Armee der Welt kann ohne festes Hinterland siegen." Diese Unzuverlässigkeit erklärte er aus „dem sozialen Charakter" der Regierung Denikin-Koltschak. Sie brächten nicht nur „das Joch des Gutsbesitzers und des Kapitalisten", sondern auch „des englisch-französischen Kapitals mit sich." Denikin-Koltschak repräsentierten also eine doppelte Ausbeutung und Unterdrückung der Volksmassen, durch das nationale und englisch-französische Kapital.

Ein Sieg Denikins und Koltschaks würde „den Verlust der Selbständigkeit Rußlands, die Verwandlung Rußlands in eine Melkkuh der englischen und französischen Geldsäcke bedeuten." Die Regierung Denikin-Koltschak war in diesem Sinne volksfeindlich und antinational.

Dieser Regierung gegenüber ist die Sowjetregierung eine „Volksregierung" und die „einzige nationale Regierung". Sie bringt nicht nur die Befreiung der Werktätigen vom Kapital, sondern auch die Befreiung ganz Rußlands vom Joch des Weltimperialismus.

Die Sowjetregierung verkörperte demnach die soziale und nationale Befreiung der Werktätigen Rußlands. Es ist zu beachten, daß Stalin neben dem sozialen Inhalt, den Klassenaspekt im Bürgerkrieg, auch die nationalen Interessen berücksichtigte. Dadurch gelang es ihm, patriotisch gesinnte Offiziere, die keine Kommunisten waren, für den Dienst in der Roten Armee zu gewinnen. Unter den genannten Umständen hatten die Denikin-Koltschak Regierung und deren Truppen keine Unterstützung der „breiten Schichten der russischen Bevölkerung". Das Hinterland Denikins und Koltschaks „kracht in allen Fugen", während das Hinterland der Sowjetregierung „mit seinen Säften die rote Front" ernähre, weil sie das Vertrauen der Volksmassen habe.

B. Die peripherische Lage der Konterrevolution.

Schon zu Beginn der Oktoberrevolution habe sich eine „gewisse geographische Grenze zwischen Revolution und Konterrevolution" gezeigt, die sich im Laufe des Bürgerkrieges „endgültig" herausgebildet habe.

Das innere Rußland mit seinen industriellen und kulturpolitischen Zentren, Moskau und Petrograd, in nationaler Hinsicht gleichartig, mit vorwiegend russischer Bevölkerung, wurde zur „Basis der Revolution". Die Randgebiete, vor allem das südliche und östliche, haben keine wichtigen industriellen und kulturpolitischen Zentren und sind in nationaler Hinsicht sehr verschiedenartig. Dort gäbe es „privilegierte kosakische Kolonisatoren", andererseits „rechtlich benachteiligte" Tataren, Baschkiren, Kirgisen, Ukrainer, Tschetschenen, Inguschen und andere mohammedanische Völker. Die Randgebiete wurden zur Basis der Konterrevolution.

Die Schlußfolgerung daraus lautete, daß in der Epoche eines erbitterten Bürgerkriegs ohne nationale und besonders klassenmäßige Einheit des Hinterlandes dauerhafte militärische Erfolge undenkbar sind.

Wenn die konterrevolutionären Truppen eine bestimmte Grenze erreicht haben, die Grenzen des inneren Rußlands, erleiden sie unvermeidlich eine Niederlage.110)

Neben diesen „tieferen" Ursachen gab es noch andere, unmittelbare für die Niederlage der konterrevolutionären Truppen, hauptsächlich an der Südfront:

1. Die Verbesserung des Reserve- und Ersatzwesens der sowjetischen Südfront. 2. Die Verbesserung des Versorgungswesens. 3. Der Zustrom von kommunistischen Arbeitern an die Front aus den Industriezentren des inneren Rußlands. 4. Das Ingangkommen des Verwaltungsapparates. 5. Die geschickte Anwendung des Systems offensiver Flankenstöße durch das Oberkommando der Südfront. 6. Der methodische Charakter der Offensive selbst.111)

In der Beurteilung der Verteidigungskämpfe der Roten Armee gegen den Einfall polnischer Truppen in der Ukraine und die Bjelorussische Republik bewies Stalin geradezu klassisches strategisches Denken.

Nach dem Scheitern der Offensive Koltschaks und Denikins setzten die Ententemächte Anfang 1920 auf einen neuen Angriff der polnischen Armee zur Eroberung der Ukraine rechts des Dneprs und Bjelorußlands. Die weißgardistischen Truppen Wrangels auf der Krim sollten zeitgleich von Süden angreifen, um die Rote Armee zur Teilung ihrer Truppen zu zwingen. Die Ententemächte hatten Polen mit umfangreichem Kriegsmaterial aufgerüstet. Von den USA erhielten die Polen im ersten Halbjahr 1920 200 Panzer, 300 Flugzeuge, 20.000 Maschinengewehre. Frankreich lieferte 2.000 Geschütze, 3.000 Maschinengewehre, 500.000 Gewehre und 350 Flugzeuge. Die Gesamtstärke der polnischen Armee betrug rund 740.000 Mann. Etwa 700 französische Offiziere, darunter 38 Generäle und Obersten übernahmen die Rolle von Instrukteuren der polnischen Armee.112) Wie Churchill in seinen Memoiren schrieb, wurde die polnische Armee von dem französischen General Weygand beraten und von der britischen Mission unter Lord d’Abernon unterstützt.112a)

Am 25. April 1920 eröffneten die Polen ihre Offensive gegen die Ukraine, am 17. Mai besetzten sie Kiew. Die Verantwortung für diesen Tatbestand trug Trotzki, zu dieser Zeit Vorsitzender des Revolutionären Kriegsrates der Republik. Er hatte die Gefahren, die von den polnischen Truppen ausgingen, unterschätzt.

Am 14. Mai begann die Rote Armee unter dem Kommando von Tuchatschewski ihre Gegenoffensive. Nach schweren Kämpfen gelang es, die Polen zurückzuwerfen. Am 12. Juni wurde Kiew befreit. Anfang Juli war der größte Teil der Ukraine von den polnischen Interventen geräumt. In der ersten Julihälfte vertrieben die Truppen der Roten Armee die Polen aus Minsk und Wilna.113)

Etwa zeitgleich begannen die weißgardistischen Truppen Wrangels von der Krim ihre Offensive gegen das nördliche Schwarzmeergebiet und bedrohten die Rote Armee im Rücken. In Verkennung der gefährlichen Lage, der Unterschätzung der Möglichkeiten der polnischen Armee faßte das Oberkommando den verhängnisvollen Beschluß, die Offensive in Richtung Warschau fortzusetzen - gegen den Rat Stalins.

In seinem Artikel für die Prawda (25. und 26. Mai) „Ein neuer Feldzug der Entente gegen Rußland", nach Beginn der Gegenoffensive der Roten Armee und ihren ersten Erfolgen warnte Stalin vor einer Überschätzung der eigenen und einer Unterschätzung der feindlichen Kräfte.114)

Er ging theoretisch wieder von der Rolle des Hinterlandes im Kriege aus. „Keine Armee der Welt kann ohne ein stabiles Hinterland siegen (wir sprechen natürlich von einem dauerhaften und festen Sieg)." Er verglich die Rolle des Hinterlandes der Feldzüge Koltschaks und Denikins mit dem Feldzug der Polen. Koltschak und Denikin hatten kein national und klassenmäßig geschlossenes Hinterland, operierten in einer feindlichen Atmosphäre und mußten „beim ersten starken Schlag der Sowjettruppen zusammenbrechen." Im Unterschied dazu „ist das Hinterland der polnischen Truppen gleichartig und in nationaler Hinsicht geschlossen. Daher seine Einheit und Festigkeit. Die in ihm vorherrschende Stimmung, das ‘Heimatgefühl’, übermittelt sich durch zahlreiche Kanäle der polnischen Front und schafft in den Truppen nationale Geschlossenheit und Festigkeit. Daher die Standhaftigkeit der polnischen Truppen. Klassenmäßig ist das Hinterland Polens natürlich nicht gleichartig ... aber die Klassenkonflikte haben noch nicht eine solche Stärke erreicht, um das Gefühl der nationalen Einheit durchbrechen und die klassenmäßig verschiedenartige Front mit den Klassengegensätzen anstecken zu können.

Wenn die polnischen Truppen im eigentlichen Polen operieren würden, so wäre der Kampf gegen sie zweifellos schwierig...."115)

„Dadurch, daß die polnischen Truppen über die Grenzen Polens hinausgehen und tief in die an Polen angrenzenden Gebiete vordringen entfernen sie sich von ihrem nationalen Hinterland, schwächen die Verbindung mit ihm und geraten in eine für sie fremde, größtenteils feindliche nationale Umgebung. Und was noch schlimmer ist: Diese Feindseligkeit wird dadurch weiter vertieft, daß die gewaltige Bevölkerungsmehrheit der an Polen angrenzenden Gebiete (Bjelorußlands, Litauens, Rußlands, der Ukraine) aus nichtpolnischen Bauern besteht, die unter dem Joch der polnischen Gutsherren leiden, daß diese Bauern die Offensive der polnischen Truppen als Krieg für die Macht der polnischen Pans, als Krieg gegen die unterdrückten nichtpolnischen Bauern betrachten"...116)

„Dies alles mußte zwangsläufig innerhalb der polnischen Truppen eine Atmosphäre der Ungewißheit und Unsicherheit schaffen, mußte zwangsläufig ihre moralische Standhaftigkeit, ihren Glauben an die Gerechtigkeit ihrer Sache und ihre Siegeszuversicht erschüttern, mußte zwangsläufig die nationale Geschlossenheit der polnischen Truppen aus einem positiven Faktor in einen negativen Faktor verwandeln."117)

„Hier kommen wir zur Frage des Gebiets für den Hauptangriff. In jedem Krieg und namentlich im Bürgerkrieg hängt der Erfolg, der entscheidende Sieg nicht selten von der richtigen Wahl des Gebiets für den Hauptangriff ab, von der richtigen Wahl des Gebiets, aus dem man den Hauptschlag gegen den Gegner zu führen und zu entwickeln gedenkt. Ein großer Fehler Denikins bestand darin, daß er sich zum Gebiet des Hauptangriffs die Strecke Donezbecken-Charkow-Woronesh-Kursk erwählte, das heißt ein Gebiet, das für Denikin offenkundig unzuverlässig war..." Daraus erklärten sich nicht zuletzt die Erfolge der Roten Armee.

„Dieses Moment, das von den alten Militärs des öfteren außer acht gelassen wird, hat im Bürgerkrieg häufig eine entscheidende Bedeutung."118)

In einer Unterredung mit einem Mitarbeiter der Ukrainischen ROSTA (Ukrainische Vertretung der Russischen Telegrafenagentur), veröffentlicht in der Zeitschrift „Kommunist" (Charkow) Nr. 140, vom 24. Juni 1920, analysierte Stalin die Ergebnisse des Durchbruchs der Roten Armee durch die Front der zweiten polnischen Armee bei Berditschew und der Besetzung Shitomirs am 7. Juni.

Die dritte und sechste polnische Armee (im Gebiet von Kiew bzw. Kamenez-Podolsk) befanden sich auf dem Rückzug.

Mit dem Durchbruch habe „unsere stürmische Generaloffensive an der ganzen Front begonnen."119) Im Oberkommando wurden die Erfolge offenbar überschätzt, nicht nur von Trotzki und Tuchatschewski, die die Offensive in Richtung Warschau weiterführen wollten. Obwohl Stalin Lenin nicht ausdrücklich nannte, auch Lenin glaubte, die Offensive nach Warschau fortsetzen zu können, in Erwartung einer revolutionären Erhebung der polnischen Arbeiterklasse.

Ende Juli wurde in dem von der Roten Armee befreiten Bialystok das Provisorische Polnische Revolutionskomitee gebildet, an dessen Spitze Julian Marchlewski als Vorsitzender, sowie Feliks E. Dzierzynski, Feliks Kon, Edward Prochniak und Josef Unszlicht standen. In den von der Roten Armee befreiten Gebieten veranlaßte das Revolutionskomitee die Nationalisierung der Industrie, die Konfiszierung der Gutsländereien sowie des Bodens der Klöster und des Staates. Die Bauern wurden von ihren Schuldenlasten entbunden. Auf Vorschlag Dzierzynskis sollte der Boden der Gutsherren unter die Bauern aufgeteilt werden. Das Revolutionskomitee übergab jedoch die Ländereien an die Komitees der Landarbeiter zur Schaffung von Staatsgütern. Diese Entscheidung erwies sich als ein ernster Fehler.120)

Der - nicht zuletzt - durch die Erfolge der Roten Armee ausgelöste revolutionäre Aufschwung der polnischen Arbeiterbewegung wurde offenbar überschätzt, auch von Lenin. Rückblickend erklärte Lenin in seiner Rede auf dem Verbandstag der Lederarbeiter am 2. Oktober 1920: „Auf unserer Parteikonferenz, die vor einigen Tagen zu Ende gegangen ist, hörten wir den Bericht eines polnischen Arbeiters, des Vertreters einer der größten Gewerkschaften Polens, der sich aus Warschau zu uns durchgeschlagen hatte. Er erzählte davon, welchen Verfolgungen die Arbeiter in Polen ausgesetzt waren, wie die Arbeiter Warschaus auf die Rote Armee als auf ihre Befreier blickten, wie sie auf die russische Rote Armee warteten und in ihr nicht einen Feind, sondern umgekehrt einen Freund im Kampf gegen die Pans, gegen die bürgerlichen Unterdrücker Polens sahen."121)

Ein Sturz der Regentschaft Pilsudskis in Polen hätte nach Lenin das gesamte imperialistische System, wie es sich nach dem Versailler Vertrag herausgebildet hatte, ins Wanken gebracht.122) Das war aus der Sicht von 1920 nicht unbegründet, war aber auch nicht mehr als eine Möglichkeit. Stalin sah in dieser Frage klarer, wenn er sagte, daß es falsch wäre, zu glauben, „daß die Polen an unserer Front schon erledigt wären." Sie hätten die Unterstützung der „gesamte(n) Entente." Die Polen verfügten noch über Reserven. Die polnische Armee sei „noch nicht von einer Zersetzung im Massenmaßstab ergriffen." Es stünden zweifellos noch „erbitterte Kämpfe" bevor. Stalin wandte sich gegen „Überheblichkeit" und „Selbstzufriedenheit" „einiger Genossen", nannte aber keine Namen. (Offenbar war Trotzki gemeint, UH) Sie „schreien von einem ‘Marsch nach Warschau’", fabulieren von einem „roten sowjetischen Warschau!"123)

Von der Krim aus habe Wrangel, auf Forderung der Entente, eine Offensive begonnen, um „die schwere Lage der Polen zu erleichtern." Stalin meinte, daß diese Offensive die Lage der Polen" bedeutend erleichtert habe. Er müsse „aufs kategorischste" erklären, „daß wir ohne Anspannung aller Kräfte im Hinterland wie an der Front nicht siegen können,..."124)

Aufschluß über die Krimfront gibt ein Telegramm Stalins an Lenin vom 25. Juni 1920, das schlagartig, in pregnanter Kürze, die Situation an dieser Front beschreibt.

TELEGRAMM AN W.I. LENIN

Der von uns am 10. Juni an der Krimfront gefangengenommene Frontgeneral Rewischin hat in meiner Anwesenheit erklärt: a) Bekleidung, Geschütze, Gewehre, Tanks, Säbel bekommen die Wrangeltruppen hauptsächlich von den Engländern und dann auch von den Franzosen; b) von der Seeseite her wird Wrangel durch große englische und kleine französische Schiffe versorgt; c) Brennstoff (flüssigen) erhält Wrangel aus Batum (also darf Baku keinen Treibstoff nach Tiflis abgeben, das ihn nach Batum weiterverkaufen kann); d) General Erdeli, den Georgien interniert hatte und der an uns ausgeliefert werden sollte, war schon im Mai auf der Krim (das heißt, daß Georgien ein falsches Spiel treibt und uns hintergeht).

Die Aussagen General Rewischins über die Unterstützung Wrangels durch England und Frankreich werden stenographisch aufgenommen und Ihnen, mit seiner Unterschrift versehen, als Material für Tschitscherin zugesandt werden. Stalin, 25. Juni 1920

Zuerst veröffentlicht in der „Prawda" Nr. 313., 14. November 1935. 125)

In einer Unterredung mit einem Mitarbeiter der Prawda (11. Juli 1920) warnte Stalin erneut vor einem „Marsch auf Warschau."126) Er analysierte exakt die Lage an der polnischen Front und im Süden gegen Wrangel.

Bei Würdigung der Leistungen der Reiterarmee Budjonnys beim Durchbruch der polnischen Front und der Rückgewinnung von Shitomir wies er auf den „verzweifelten Widerstand der Polen" hin.

Die Polen hatten vor dem Durchbruch Budjonnys im Unterschied zu Denikin „den Bewegungskrieg erfolgreich mit dem Stellungskrieg kombiniert, indem sie die Front an den wichtigsten Punkten mit einer Reihe von Schützengräben und Drahtverhauen überzogen. Dadurch erschwerten sie unser Vorrücken bedeutend."127) Die Polen kämpften demnach mit äußerster Entschlossenheit. „Erst nach dem Durchbruch begannen die Polen, sich in ganzen Gruppen gefangen zu geben und in Massen zu desertieren", worin Stalin das „erste Anzeichen für den moralischen Zerfall der polnischen Truppen" sah.

Trotz der Erfolge der Reiterarmee bei Shitomir warnte Stalin vor „unziemliche(r) Überheblichkeit, wollte man annehmen, daß die Polen im großen und ganzen schon erledigt seien, daß uns nur noch der ‘Marsch auf Warschau’ bevorstehe."128)

Polen stünde nicht allein. Die Entente unterstütze sie gegen Sowjetrußland. Sie verfügten über Reserven. Im Rücken unserer Truppen stehe Wrangel, der - trotz der Widersprüche zwischen den Weißgardisten und Polen - mit ihnen schon übereingekommen sei und mit ihnen gemeinsame Sache mache.

Wrangel drohe, „...die Früchte unserer Siege über Polen vom Hinterland aus illusorisch" zu machen.129)

„Offenbar ist die Front Wrangels die Fortsetzung der polnischen Front, jedoch mit dem Unterschied, daß Wrangel im Rücken unserer gegen die Polen kämpfenden Truppen operiert, das heißt an der für uns gefährlichsten Stelle. Deswegen ist es lächerlich, von einem ‘Marsch nach Warschau’ und überhaupt von Dauerhaftigkeit unserer Erfolge zu sprechen, solange die Wrangelsche Gefahr nicht liquidiert ist. Indessen wird Wrangel stärker, aber man sieht nicht, daß wir irgend etwas Besonderes und Ernstliches gegen die wachsende Gefahr vom Süden unternehmen."130)

In einem Briefentwurf für das Zentralkomitee an alle Parteiorganisationen vom Juli 1920 schrieb Stalin in Kurzform eine Einschätzung der Armee Wrangels. Dieser Entwurf gibt Aufschluß über die Gefährlichkeit dieser Armee für Sowjetrußland.

Um Wrangel habe sich eine Gruppe „erfahrener, tollkühner und blutdürstiger Generale geschart, die vor nichts zurückschrecken". Die Soldaten seien „großartig in Verbände gegliedert, sie schlagen sich tollkühn und ziehen der Gefangenschaft den Selbstmord vor." Technisch seien die Truppen Wrangels besser ausgerüstet als unsere. Sie erhielten Tanks, Panzerautos, Flugzeuge, Patronen und Bekleidung aus dem Westen - trotz gegenteiliger Erklärung Englands.

Die eigenen Truppen seien mit Kriegsgefangenen, ehemaligen Denikinleuten, durchsetzt, die nicht selten überlaufen. Um einen Umschwung an der Front zu erreichen, müssen die Truppen von den ehemaligen Kriegsgefangenen gereinigt und durch Freiwillige oder mobilisierte Kommunisten verstärkt werden.

Rußland müsse die Krim „um jeden Preis" zurückerhalten, „denn sonst werden die Ukraine und der Kaukasus immer von Feinden Sowjetrußlands bedroht sein."131)

Auf dem Briefentwurf hatte Lenin für den Sekretär des ZK vermerkt: „Ich bin für die sofortige Versendung, da die Sache unanfechtbar ist." Der Brief wurde in der zweiten Julihälfte 1920 an alle Parteiorganisationen versandt.132)

Am 16. August 1920 erlitt die Rote Armee vor Warschau von den polnischen Truppen eine empfindliche Niederlage. Es trat ein, wovor Stalin gewarnt hatte. Falkenhagen beschreibt die Niederlage der Roten Armee vor Warschau wie folgt:

„Die Truppen der Westfront (die im nördlichen Teil gegen die polnischen Aggressoren operierenden roten Truppen) näherten sich Warschau. Die völlige Niederlage der polnischen Truppen stand unmittelbar bevor. Durch das Verschulden Trotzkis und Tuchatchewskis kam es jedoch beim Vorrücken auf Warschau zu schweren taktischen Fehlern. Man ließ die roten Truppen nicht die eingenommenen Positionen befestigen. Die vorderen Truppenteile wurden zu weit nach vorne geschickt, Reserven und Munition in der Etappe belassen.

Die Frontlinie wurde in unverantwortlicher Weise verlängert und infolgedessen ein Durchbrechen bei einem polnischen Gegenangriff erleichtert. Stalin wollte zur Entlastung der bei Warschau operierenden roten Truppen Lemberg einnehmen und weiter nach Westen und Nordwesten vorstoßen. Die vollkommen organisiert verlaufenden Operationen hätten mit Sicherheit die völlige Niederlage der polnischen Truppen verbürgt. Aber Trotzki verbot in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Revolutionären Kriegsrats der Republik die Einnahme Lembergs. Er erteilte den Befehl, die l. Reiterarmee, d.h. die Hauptkraft der Südwestfront, nach Nordosten zu werfen, was sich als verheerender Fehler erwies. Es brachte der nördlichen Front nicht die Rettung und konnte sie gar nicht bringen, da die Reiterarmee infolge der Entfernungen nicht rechtzeitig zur Stelle sein konnte und auch noch an die falschen Frontabschnitte dirigiert wurde. Die Polen traten erfolgreich zum Umklammerungsangriff an. Im Norden herrschte nach ihren Durchbruch völlige Panik. Trotzki und Tuchatschewski waren sogar außerstande, einen koordinierten Rückzug zu sichern. In der Folge mußten sich auch die vor Lemberg stehenden roten Truppen zurückziehen, was aber im Gegensatz zu dem chaotischen Kampfverlauf an der Warschauer Front relativ geordnet und mit geringen Verlusten erfolgte.

Trotzki, der die Roten Truppen mit dem großsprecherischen Versprechen in die Offensive geschickt hatte, die Revolution bis nach Deutschland zu tragen, um seine Theorie der ‘permanenten Revolution’ bestätigt zu erhalten, hatte kläglich versagt, und es gibt allen Grund zu der Annahme, daß er die Niederlage sogar in heimlicher Absicht herbeigeführt hatte. Indirekt gab er später in seinem Werk ‘Mein Leben’ (russ., Seiten 443 - 446) auch zu, daß er keinen Wert darauf legte, nach Warschau und darüber hinaus vorzudringen.

Die damals von Trotzki gegebenen Befehle rufen heute noch in Kreisen von Militärfachleuten Kopfschütteln hervor. Mit Fug und Recht bezeichnete Stalin den Befehl Trotzkis, daß die roten Truppen im Süden nicht weiter vorrücken sollen, als Schädlingsbefehl, der an Hochverrat grenzt. Es war eine direkte Hilfe für die polnischen Bourgeois und Großgrundbesitzer sowie für die Ententemächte."132a)

In einem Memorandum an das Politbüro des ZK der KPR (B) vom 25. August und in einer Erklärung an die gleiche Adresse vom 30. August zog Stalin aus den Ursachen der Niederlage Schlußfolgerungen, die für die Militärtheorie von Bedeutung waren.133)

Das „Hauptübel unserer Armeen" erkannte Stalin im „Fehlen ernstlicher Kampfreserven." Es seien mächtige Reserven zu bilden, „die in jedem beliebigen Augenblick an die Front geworfen werden können..." In neun Punkten unterbreitete er ein „Programm zur Bildung von Kampfreserven der Republik". Sie umfassen Maßnahmen, wie sie die konkrete Situation an den Fronten Sowjetrußlands im Herbst 1920 erforderten und sind nicht von allgemeingültiger Bedeutung.

Das normale Ersatzwesen sei fortzusetzen, Divisionen, die kampfunfähig geworden seien, sind ins Hinterland zurückzunehmen. Die zurückzunehmenden Infanteriedivisionen seien in solchen Gebieten - „unbedingt Getreidegebieten" - zu konzentrieren, von wo aus sie rasch an die Wrangel-, die polnische- oder rumänische Front geworfen werden können, je nach Sachlage. - Diese Divisionen seien so zu versorgen und jede von ihnen auf sieben- bis achttausend Infanteristen aufzufüllen. Sie müssen ab l. Januar 1921 voll einsatzbereit sein. - Desgleichen seien die im Einsatz stehenden Kavallerietruppen bis Januar aufzufüllen, die erste Reiterarmee auf 10.000, die zweite auf 8.000 und das Korps Gais auf 6.000 Mann. - Innerhalb von zwei Monaten sind fünf weitere Kavalleriebrigaden von je l.500 Mann aufzustellen. - Besondere Aufmerksamkeit sei auf die Reparatur und Herstellung von Kraftwagen, auf die Panzerplattenindustrie - hauptsächlich für die Panzerung von Kraftwagen - zu richten, die Flugzeugindustrie sei mit „allen Mitteln" zu verstärken.134)

Dieses Programm erwies sich für diese Zeit unter militärpolitischen Gesichtspunkten als richtig, der Situation angepaßt. Der Zusammenhang von Produktion - Ausrüstung - Versorgung und Aufstellen von Reserven war ausgewogen. Es war ein sehr angespanntes Programm. Dies wird ersichtlich, wenn man überschlägt, wieviel Futtermittel allein für die Versorgung der Kavallerie - allein 24.000 Pferde für die Auffüllung - aufzubringen waren. Daher auch der Hinweis: „unbedingt Getreidegebiete". Die Versorgung der kämpfenden Truppe sowie für den Ersatz mußten auch transportiert werden. Munition und Ersatz von Waffen waren hier noch nicht einmal erwähnt. Interessant ist der Hinweis, die Flugzeugindustrie „mit allen Mitteln" zu verstärken. Stalin hatte offenbar schon zu dieser Zeit die Bedeutung einer schlagkräftigen Luftwaffe in zukünftigen Kriegen erkannt.

Harsche Kritik äußerte Stalin an Trotzki, der nicht einmal „die Spur eines Planes für die Bildung von Reserven" vorgelegt habe.135)

Die Erfahrungen des Sommerfeldzuges (Ural, Sibirien, Nordkaukasus) hätten gezeigt, daß die Reserven mit großer Verspätung eintrafen, der Ersatz nicht oder nur halb ausgebildet war. Es habe auch keine speziellen Reserveeinheiten gegeben. Die Zeit für die Ausbildung und Auffüllung müsse verlängert werden. Die „planmäßige Arbeit" zur Bildung „ernst zu nehmender Reserven" müsse sofort aufgenommen werden. Wenn Trotzki „irrtümlich" glaube, daß die Versorgung nicht das „wichtigste" sei, so habe der Bürgerkrieg das Gegenteil bewiesen. Die Hälfte aller „Hemden" und „Stiefel", die den Soldaten gegeben wurden, landeten bei den Bauern! Die Soldaten tauschten sie gegen Milch, Butter und Fleisch, und werden das auch weiterhin tun, „das heißt im Austausch gegen all das, was wir" ihnen „nicht geben können."136)

Stalin kritisierte die „schädliche ‘Doktrin’", wonach die zivilen Behörden für die Truppenversorgung zuständig seien, alles übrige sei Sache des Feldstabes. Er forderte „kategorisch": Die Militärbehörde habe einen konkreten Plan für die Bildung von Kampfreserven unverzüglich auszuarbeiten. Das ZK müsse sich mit diesem Plan befassen und die Kontrolle über den Feldstab verstärken.137)

Die Ausführungen Stalins fanden im Referat Lenins auf dem X. Parteitag der KPR (B) (8. - 16. März 1921) ihre Bestätigung:

„Von diesem grundlegenden Umstand, der eine ganze Reihe von Fehlern bedingt und die Krise verschärft, möchte ich dazu übergehen, wie in der Arbeit der Partei und im Kampf des gesamten Proletariats eine ganze Reihe noch einschneidenderer Mißverhältnisse, Fehler der Berechnung oder des Plans zutage getreten sind - und nicht nur Fehler des Plans, sondern auch Fehler bei der Bestimmung des Kräfteverhältnisses zwischen unserer Klasse und denjenigen Klassen, mit denen unsere Klasse über die Geschicke der Republik zu entscheiden hat, indem sie mit ihnen zusammenarbeitet, sie aber manchmal auch bekämpft. Von diesem Standpunkt ausgehend, müssen wir uns den Ergebnissen des Erlebten, den politischen Erfahrungen und dem zuwenden, worüber das ZK, da es ja die Politik geleitet hat, sich klarwerden und was es der gesamten Partei klarzumachen suchen muß. Das sind so verschiedenartige Erscheinungen wie der Verlauf unseres Krieges mit Polen, die Lebensmittel- und die Brennstofffrage.

Bei unserer Offensive, bei unserem allzu raschen Vormarsch fast bis vor Warschau, ist zweifelsohne ein Fehler begangen worden. Ich will jetzt nicht untersuchen, ob das ein strategischer oder ein politischer Fehler war, denn das würde zu weit führen. Ich glaube, das soll man künftigen Geschichtsschreibern überlassen; diejenigen aber, die in schwerem Kampf weiterhin alle Feinde abwehren müssen, haben anderes zu tun, als sich mit Geschichtsforschung zu befassen. Jedenfalls liegt aber ein Fehler vor, und dieser Fehler wurde dadurch hervorgerufen, daß wir das Übergewicht unserer Kräfte überschätzt hatten. Inwieweit dieses Übergewicht der Kräfte von ökonomischen Bedingungen abhing, inwieweit es davon abhing, daß der Krieg mit Polen patriotische Gefühle sogar unter den kleinbürgerlichen, durchaus nicht proletarischen Elementen weckte, die durchaus nicht mit dem Kommunismus sympathisieren, die die Diktatur des Proletariats nicht bedingungslos unterstützen, ja manchmal, das muß gesagt werden, sie überhaupt nicht unterstützen - das zu untersuchen, wäre allzu kompliziert. Aber die Tatsache bleibt bestehen: im Krieg gegen Polen haben wir einen gewissen Fehler begangen.138)

Die Fernwirkungen dieser Fehlers reichen bis in die Gegenwart. Darüber schrieb der polnische Autor Stefan Warynski aus Warschau in seinem Artikel „Siamesische Zwillinge":

„Antikommunismus und Antisowjetismus traten in Polen von Anfang an wie siamesische Zwillinge auf. Im Frühling 1920 hatte die Warschauer Regierung das Sowjetland überfallen. In einer Gegenoffensive vertrieb die Rote Armee die Interventen und stand im August an der Weichsel. Die zeitweilige Stärke und politische Fehlkalkulationen verführten den Rat der Volkskommissare dazu, in den besetzten Gebieten mit polnischer Bevölkerung eine prosowjetische provisorische Regierung einzusetzen und revolutionäre Umwälzungen einzuleiten. Die Einwohnerschaft verhielt sich demgegenüber reserviert, zumal die Aktionen nur wenige Wochen anhalten sollten. Darüber hinaus erwies sich der sowjetische Feldzug auf Polens Boden als politischer und militärstrategischer Fehler. Denn erst 1918 war die 123 Jahre dauernde zaristische Fremdherrschaft in diesem Gebiet zu Ende gegangen. So gelang es der polnischen Bourgeoisie, alle Klassen und Schichten ‘zur Verteidigung des Vaterlandes’ zu mobilisieren. Am 15. August 1920 gingen die polnischen Streitkräfte zur Gegenoffensive über. Sie trieben die Rote Armee bis weit nach Belorußland zurück. Später wurde dem Sowjetland ein demütigender Frieden aufgezwungen. Jener Augusttag war seither - und ist erneut seit 1990 - offizieller Feiertag.

Diesen Sieg des vom Westen damals wirtschaftlich und militärisch unterstützten Landes über die junge Sowjetmacht interpretierten viele Polen so: Ob Zar oder Kommunisten, Russe bleibt Russe. Dessen Ziel aber sei es, Polen zu unterjochen. Russen seien expansiv und man dürfe sie - koste es was es wolle - niemals auf polnisches Territorium lassen, da sie dort sofort den gesellschaftlichen Umbruch betrieben. Polnische Kommunisten aber seien Russenknechte, die es in besonders perfider Weise auf die Seele des eigenen Volkes, seine nationale Identität und den katholischen Glauben abgesehen hätten. Doch das kleine Polen habe gezeigt, daß es in der Lage sei, als antibolschiwistisches Bollwerk und Verteidiger der europäisch-christlichen Zivilisation auch einem zahlenmäßig überlegenen Gegner standzuhalten und ihn sogar militärisch zu besiegen. Diese unrealistische Einschätzung ist eine der wesentlichen Ursachen dafür, daß die polnischen Antikommunisten besonders motiviert, ausdauernd, hartnäckig und uneinsichtig waren und sind. Der Sieg von 1920 wurde von der katholischen Kirche - der stärksten antikommunistischen Kraft in Polen - als ‘Wunder an der Weichsel’ im Kampf gegen den ‘Antichrist’ interpretiert. Die damalige Niederlage der Roten Armee habe Europa vor den Roten gerettet."139)

Antikommunismus, eine weit in die Geschichte zurückreichende Russophobie als weitverbreitete, vom Klerus geförderte und geheiligte Ideologie in der polnische Gesellschaft sowie die strategische Lage Polens lassen es heute eine wichtige Vorpostenrolle der NATO gegen Rußland einnehmen.

So wie die Ententemächte Polen als Rammbock gegen die junge Sowjetrepublik mißbrauchten, die Invasion der faschistischen deutschen Wehrmacht am 22. Juni 1941 von polnischem Territorium ausging, soll es heute in der ersten Reihe stehen, um in Rußland zu intervenieren, wenn es dort zu gesellschaftlichen Umwälzungen kommen sollte, die dem internationalen Monopolkapital, nicht zuletzt dem deutschen - nicht genehm sind oder auch zu einem ganz ordinären Raubkrieg.

NATO-Polen ist wieder zu einer Gefahr für Rußland geworden - ein Sachverhalt, der von den russischen Militärs nicht unbemerkt geblieben seien dürfte.

Interessant und aktuell ist eine Betrachtung von Stalin über die strategische Lage des Kaukasus vom November 1920. Die große Bedeutung des Kaukasus ergäbe sich nicht nur aus den dort vorhandenen Roh- und Brennstoffen sowie Lebensmitteln, sondern auch aus seiner Lage zwischen Europa und Asien, insbesondere zwischen Rußland und der Türkei, durch das Vorhandensein der ökonomisch und strategisch höchst wichtigen Straßen (Batum - Baku, Batum - Täbris, Batum - Täbris - Ereserum).140)

Die Entente besäße zur Zeit in Konstantinopel den Schlüssel zum Schwarzen Meer und möchte die „direkte Straße über Transkaukasien nach Osten" behalten. „Die ganze Frage geht darum, wer sich schließlich im Kaukasus behaupten, wer das Erdöl und die höchst wichtigen Straßen nach Innerasien ausnutzen wird - die Revolution oder die Entente."141)

Die Planung des deutschen Monopolkapitals im Zweiten Weltkrieg sah die Eroberung dieses Gebietes - Öl und Getreide - als ein vorrangiges Ziel ihres Aggressionskrieges gegen die Sowjetunion an. Dieser Eroberungskrieg hätte auch stattgefunden, wenn es sich um ein zaristisches Rußland gehandelt hätte. Hitler war nichts anderes als der Willensvollstrecker des reaktionärsten, raubgierigsten Teiles des deutschen Monopolkapitals. Die Niederlage der 6. Armee in Stalingrad im Februar 1943 bereitete diesen Träumen ein Ende.

Nach der konterrevolutionären Zerstörung der Sowjetunion 1991 drangen die großen Ölkonzerne, und nicht nur diese, erneut in die transkaukasischen Gebiete ein. Diese strategische Lage des Kaukasus, der Weg nach Mittelasien, in die ehemaligen Sowjetrepubliken, bildet den Hintergrund des Krieges in Tschetschenien. Wer wirklich hinter den tschetschenischen Separatisten steckt, werden wir wohl erst später erfahren.

Wenn 1920 Tiflis, „in eine Basis der konterrevolutionären Tätigkeit" verwandelt, in Aserbaidshan, Dagestan und bei den Bergvölkern des Terekgebietes „bürgerliche Regierungen"... „mit Mitteln der Entente und mit Hilfe des bürgerlichen Georgiens" gebildet werden konnten, so zeugte dies davon, „daß die alten Wölfe der Entente nicht schlafen." Die „gierigen Krallen der Entente" waren nach dem Bakuer Erdöl ausgestreckt.

Georgien war in den 20er Jahren „die Hauptbasis der imperialistischen Operationen Englands und Frankreichs."142)

70 Jahre Sowjetmacht im Kaukasus hatten die „gierigen Krallen" imperialistischer Mächte gestutzt, bis ein Gorbatschow im Kreml und ein Schewardnadse in Tiflis 1991 den Kaukasus dem Zugriff imperialistischer Mächte wieder geöffnet hatten. Und wenn Stalingrad die deutsch-faschistischen Truppen zum Abzug aus dem Kaukasus gezwungen hat, so hat die Bundeswehr neben US-amerikanischen Truppen heute wieder ein Kontingent, wenn auch - vorläufig - noch ein sehr kleines, in Georgien. (März 2003, UH)

Es mag die deutschen und ausländischen Imperialisten und ihre revisionistischen Anhängsel in sogenannten „linken" Parteien erschrecken, wenn in Rußland Stimmen vernehmlich werden, Wolgograd wieder in Stalingrad umzubenennen. Stalingrad bleibt das Menetekel des deutschen Imperialismus, und nicht nur des deutschen.

In dem Artikel „Zur Frage der Strategie und Taktik der russischen Kommunisten" anläßlich des 25. Jahrestages der Gründung der KPR (B) vom März 1923, der mehrfach in verschiedenen Presseorganen der Partei veröffentlicht wurde, zog Stalin theoretische Schlußfolgerungen aus einem Viertel Jahrhundert Klassenkämpfen der Partei, nicht zuletzt aus dem Bürger- und Interventionskrieg. In den Abschnitten: „3. Die Strategie", und „4. Die Taktik", die vorwiegend Erfahrungen aus dem Krieg enthalten, fällt auf, daß Stalin die politische mit der militärischen Strategie und Taktik eng verbindet, sie miteinander vergleicht.

In seinen theoretischen Schlußfolgerungen stimmen seine Ausarbeitungen mit den diesbezüglichen Aussagen der Militärtheorie Clausewitz’ überein, wenn auch nicht verbal. Die wichtigste Aufgabe der Strategie sei „die Festlegung der Grundrichtung, in der die Bewegung der Arbeiterklasse verlaufen soll und in der es für das Proletariat am vorteilhaftesten ist, zur Erreichung der im Programm gestellten Ziele den Hauptschlag gegen den Gegner zu führen."143)

Unterschieden von der Strategie als „Festlegung der Grundrichtung" ist der „Plan der Strategie" als „Plan der Organisierung des entscheidenden Schlages in der Richtung, in der dieser Schlag am schnellsten ein Höchstmaß von Resultaten ergeben kann."144)

Dies gelte sowohl für die militärische als auch für die politische Strategie. Aus dem Kontext folgt, daß der Politik die „Festlegung der Grundrichtung" zukommt, der die militärische Strategie unterzuordnen ist. In der Terminologie Clausewitz’, die Politik als „Zweck" bestimmt die militärische Strategie als „Mittel", zur Erreichung des politischen Ziels. Natürlich erfolgt diese Bestimmung auf einer sehr hohen Abstraktionsstufe, die in der Wirklichkeit des Krieges in dieser reinen Form nicht auftritt. Es ist die „Logik" des Krieges.

Die Taktik sei als „Teil der Strategie" „ihr untergeordnet." Sie „befaßt sich nicht mit dem Kriege als Ganzem, sondern mit seinen einzelnen Episoden, mit den Kämpfen, mit den Schlachten."

„Will die Strategie den Krieg gewinnen, oder den Kampf gegen den Zarismus zu Ende führen, so will dagegen die Taktik diese oder jene Kämpfe gewinnen, diese oder jene Kampagnen, diese oder jene Aktionen erfolgreich durchführen, die mehr oder minder der konkreten Kampflage in jedem gegebenen Moment entspricht."145)

Das Gesagte entspricht im Wesen dem Begriff Clausewitz’ vom „Gefecht"; unter diesen Begriff hat Clausewitz zum Teil auch die Schlachten subsumiert. Die Schlachten (Gefechte) verlaufen nicht nach abstrakten Gesetzen der Kriegführung, der „Logik", sondern sind von vielen Faktoren, - „der konkreten Kampflage" bei Stalin - abhängig, einschließlich des Zufalls.

So meint Clausewitz: „Die Kriegführung nun ist also die Anordnung und Führung des Kampfes. Wäre dieser Kampf ein einzelner Akt, so würde kein Grund zu einer weiteren Einteilung sein; allein der Kampf besteht aus einer mehr oder weniger großen Zahl einzelner, in sich geschlossener Akte, die wir Gefechte nennen, ... und die neue Einheiten bilden. Daraus entspringt nun die ganz verschiedene Tätigkeit, diese Gefechte in sich anzuordnen und zu führen und sie unter sich zum Zweck des Krieges zu verbinden. Das eine ist die Taktik, das andere die Strategie genannt worden."145a)

Es folgt seine Definition: „Es ist also nach unserer Einteilung die Taktik die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht, die Strategie die Lehre vom Gebrauch der Gefechte zum Zweck des Krieges."145b) Und der Zweck des Krieges wird von der Politik bestimmt.

Aus dem Verhältnis von Strategie und Taktik folgerte Stalin, daß die „Resultate" der taktischen Aktionen „nicht an und für sich, nicht vom Standpunkt des unmittelbaren Effekts gewertet werden" dürfen, „sondern vom Standpunkt der Aufgaben und Möglichkeiten der Strategie."146) Taktische Erfolge können die Durchführung strategischer Aufgaben erleichtern, müssen es aber nicht. In diesem Zusammenhang ging Stalin noch einmal auf den Krieg der polnischen Pans gegen die Sowjetrepublik (1920) und den Brester Frieden ein:

„Es gibt auch Augenblicke, da taktische Erfolge, die ihrem unmittelbaren Effekt nach glänzend sind, aber den strategischen Möglichkeiten nicht entsprechen; eine „unerwartete" Situation schaffen, die für den ganzen Feldzug verhängnisvoll wird. So lagen die Dinge mit Denikin Ende 1919, als er, hingerissen durch den leichten Erfolg des raschen und effektvollen Vormarschs auf Moskau, seine Front von der Wolga bis zum Dnjepr ausdehnte und dadurch den Untergang seiner Armeen einleitete. So lagen die Dinge 1920 während des Krieges gegen die Polen, als wir, die Kraft des nationalen Moments in Polen unterschätzend und durch den leichten Erfolg eines effektvollen Vormarschs hingerissen, die unsere Kräfte übersteigende Aufgabe auf uns nahmen, über Warschau nach Europa durchzubrechen, die gewaltige Mehrheit der polnischen Bevölkerung gegen die Sowjettruppen aufbrachten und dadurch eine Situation schufen, die die Erfolge der Sowjettruppen vor Minsk und Shitomir zunichte machte und dem Prestige der Sowjetmacht im Westen Abbruch tat.

Schließlich gibt es noch Augenblicke, da man auf den taktischen Erfolg verzichten, taktische Nachteile und Verluste bewußt in Kauf nehmen muß, um sich strategische Vorteile für die Zukunft zu sichern. Das kommt des öfteren im Kriege vor, wenn die eine Seite, um die Kader ihrer Truppen zu retten und sie dem Schlag überlegener Kräfte des Gegners zu entziehen, einen planmäßigen Rückzug beginnt und kampflos ganze Städte und Gebiete aufgibt, um Zeit zu gewinnen und Kräfte für neue entscheidende Kämpfe in der Zukunft zu sammeln. So lagen die Dinge in Rußland 1918 während der deutschen Offensive, als unsere Partei gezwungen war, auf den Brester Frieden, der vom Standpunkt des unmittelbaren politischen Effekts damals ein gewaltiger Nachteil war, einzugehen, um das Bündnis mit der nach Frieden lechzenden Bauernschaft zu bewahren, eine Atempause zu erhalten, eine neue Armee zu schaffen und sich dadurch strategische Vorteile für die Zukunft zu sichern.

Mit anderen Worten: Die Taktik kann sich nicht Augenblicksinteressen unterwerfen, sie darf sich nicht von Erwägungen des unmittelbaren politischen Effekts leiten lassen, noch viel weniger darf sie sich von der festen Erde lösen und Luftschlösser bauen - die Taktik muß entsprechend den Aufgaben und Möglichkeiten der Strategie aufgebaut werden.

Die Aufgabe der Taktik besteht vor allem darin, geleitet von den Weisungen der Strategie und unter Berücksichtigung der Erfahrungen des revolutionären Kampfes der Arbeiter aller Länder, diejenigen Formen und Methoden des Kampfes festzulegen, die der konkreten Kampflage in jedem gegebenen Augenblick am besten entsprechen.147)

Im ersten Abschnitt über die „theoretischen Grundlagen" hatte ich offen gelassen, ob und in welchem Umfang Stalin Clausewitz’ Werk „Vom Kriege" 1918 schon gekannt hat. Abschließend zu diesem Kapitale kann gesagt werden: Ob er Clausewitz’ Werk zu dieser Zeit schon gekannt hat oder nicht, auf jeden Fall hat er in Übereinstimmung mit dessen Aussagen gehandelt. Es ist nicht auszuschließen, daß Stalin auf Grund seiner Kenntnisse des historischen Materialismus, seiner analytischen Fähigkeiten auf ganz empirischem Wege von sich aus zu gleichen Erkenntnissen wie Clausewitz gelangt ist.

Militärtheorie und Militärpolitik Teil 2

Teil 2: „Die Atempause" 1920 - 1940

 

2.1. Über die internationale Situation in den 20er und 30er Jahren

2.1.1. Das Versailler System und der Rapallovertrag

Das Versailler System trug von Anfang an den Keim neuer Kriege in sich, einmal Krieg gegen Sowjetrußland, ab Dezember 1922 Sowjetunion, zum anderen innerimperialistische Kriege zwischen Großbritannien, Frankreich, USA, Japan und Deutschland um die Hegemonie in bestimmten Regionen bzw. um die Weltherrschaft, bei wechselnden Koalitionen, abhängig von Interessenlagen und Verschiebungen der Kräfteverhältnisse. Die Sowjetunion stellte eine soziale Herausforderung des gesamten imperialistischen Systems dar. In den imperialistischen Staaten genoß die Sowjetunion, die KPdSU (B), in der Arbeiterklasse und in Kreisen der Intelligenz hohes Ansehen. Trotz der Niederschlagung der Novemberrevolution in Deutschland sowie revolutionärer Bewegungen in Südosteuropa gewann die internationale kommunistische Bewegung, organisiert in der Kommunistischen Internationale (KI), im Weltmaßstab an Einfluß. In den Kolonien und Halbkolonien gärte es.

Nationaldemokratische Revolutionen in Asien, Afrika und Lateinamerika erschütterten das gesamte Kolonialsystem. Das kapitalistische Wirtschaftssystem krachte in allen Fugen. Lohnabbau, Verlust erkämpfter sozialer Einrichtungen, Inflation, Arbeitslosigkeit, mangelnde Versorgung der Millionen umfassenden Kriegsinvaliden, Witwen und Waisen kennzeichneten die Nachkriegszeit in den kapitalistischen Ländern. Mit der Weltwirtschaftskrise 1929, einer ökonomischen und politischen Krise als allgemeiner Krise des kapitalistischen Systems spitzten sich die Klassenkämpfe in den imperialistischen Staaten enorm zu. Als einziges großes Land konnte die Sowjetunion trotz der Krise ein hohes Wachstumstempo der Industrie aufweisen, wobei allerdings auch die Ausgangsbedingungen berücksichtigt werden müssen. Politisch, ökonomisch und sozial gewann die UdSSR an Einfluß, wirkte sie auf die proletarischen Massen in der kapitalistischen Welt als Alternative zu Ausbeutung, Massenelend und Krieg.

Bei allen Kämpfen zwischen den imperialistischen Mächten um die Neuaufteilung der Märkte und Rohstoffquellen war ihnen der Haß auf die Sowjetunion, gegen die Kommunisten gemeinsam. Die bloße Existenz der Sowjetunion stellte ihr kapitalistisches Herrschafts- und Ausbeutungssystem im Inland und in den Kolonien in Frage. Dieser Widerspruch zwischen innerimperialistischen Kämpfen und Kampf gegen die Sowjetunion kennzeichnete die Zeitperiode zwischen den beiden Weltkriegen, in der die Führung der KPdSU (B) und des Sowjetstaates ihre Politik ausarbeiten und durchführen mußte, bis Ende 1922 maßgeblich von Lenin, seit dessen Krankheit und Tod von Stalin. In seiner Rede auf dem VIII. Gesamtrussischen Sowjetkongreß (22. - 29. Dezember 1920) erklärte Lenin:

„Eine lange Reihe von Kriegen hat bisher das Schicksal aller Revolutionen, aller großen Revolutionen entschieden. Auch unsere Revolution ist eine solche große Revolution. Wir haben eine Periode von Kriegen hinter uns, wir müssen uns auf die zweite vorbereiten; aber wann sie anbrechen wird, wissen wir nicht, und man muß alles tun, um auf der Höhe zu sein, sobald sie anbricht."1)

Nachdem der erste große militärische Versuch der Ententemächte, Sowjetrußland zu zerschlagen, Ende 1920 gescheitert war, war es nur eine Zeitfrage, wann der nächste Krieg imperialistischer Mächte gegen Sowjetrußland stattfinden würde. Die Bolschewiki waren sich darüber im Klaren, daß ihnen nur eine Atempause gegönnt war. Diese Einsicht bestimmte ihre Außenpolitik, wie sie Lenin auf dem gleichen Kongreß erklärt hat:

„Unsere Außenpolitik besteht, solange wir allein sind und die kapitalistische Welt stark ist, einerseits darin, daß wir die Differenzen ausnutzen müssen (alle imperialistischen Mächte zu besiegen, wäre natürlich das angenehmste, aber wir werden noch ziemlich lange nicht imstande sein, das zu tun). Unsere Existenz hängt davon ab, daß einerseits grundlegende Differenzen zwischen den imperialistischen Mächten bestehen und anderseits der Sieg der Entente und der Frieden von Versailles die gewaltige Mehrheit der deutschen Nation zu unmöglichen Existenzbedingungen verurteilt haben. Der Frieden von Versailles hat eine solche Situation geschaffen, daß Deutschland von einer Atempause nicht einmal träumen kann, nicht davon träumen kann, daß man es nicht ausraube, ihm nicht die Existenzmittel nehme, seine Bevölkerung nicht zum Hungern und Hinsterben verdamme, und es liegt in der Natur der Dinge, daß die einzige Rettung für Deutschland ein Bündnis mit Sowjetrußland ist, worauf es denn auch seine Blicke richtet. Sie sind wütende Feinde Sowjetrußlands, sie hassen die Bolschewiki, sie erschießen ihre eigenen Kommunisten, wie es richtiggehende Weißgardisten tun. Die deutsche bürgerliche Regierung hegt einen wütenden Haß gegen die Bolschewiki, aber die internationale Lage drängt sie gegen ihren eigenen Willen zum Frieden mit Sowjetrußland."

Die Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten auszunutzen, war eine Maxime der sowjetischen Außenpolitik, um die Sowjetmacht zu erhalten, zu festigen und die Wirtschaft nach den Zerstörungen des Welt-, des Bürger- und Interventionskrieges zu überwinden, zumindest so lange, wie die kapitalistischen Mächte ungleich stärker waren als Sowjetrußland.2)

In Deutschland waren einflußreiche bürgerliche Kreise an Handelsbeziehungen mit Sowjetrußland interessiert. Sie sahen darin eine Möglichkeit, die versklavenden Bedingungen das Versailler Vertrages3) zu lockern und eventuell zu durchbrechen.

Am 2. Mai 1921 kam es zu einem vorläufigen Abkommen zwischen Sowjetrußland und dem Deutschen Reich über die „Erweiterung des Tätigkeitsgebietes der beiderseitigen Delegationen für Kriegsgefangenenfürsorge." Die Delegationen waren bis zu diesem Vertrag in ihrer Tätigkeit lediglich auf die Fürsorge begrenzt. Nunmehr wurden sie zu diplomatischen Vertretungen mit den Bezeichnungen „Vertretung der RSFSR in Deutschland" und „Deutsche Vertretung in Rußland", die „bis zur Wiederaufnahme der normalen Beziehungen" als diplomatische Vertretungen fungieren sollten. Desgleichen wurden mit diesem Vertrag besondere Handelsvertretungen errichtet.4)

Der konservative deutsche Diplomat Herbert von Dirksen, der mehrfach Positionen in der Sowjetunion und in der Ostabteilung des Auswärtigen Amtes bekleidet hatte - von 1928 bis 1933 Botschafter in Moskau - bestätigte in seinen Erinnerungen, daß es der deutschen Regierung bei der Normalisierung zu Sowjetrußland in erster Linie darum ging, einen Bundesgenossen im internationalen Maßstab zu suchen.

„Als zusätzliche Erwägung kam die Absicht hinzu, die Wiederherstellung normaler Verhältnisse in Rußland zu fördern, denn wir waren überzeugt, daß die Revolution in Rußland schließlich einmal versanden und einem normalen Zustand ohne Komintern, Wühlarbeit und Weltrevolution Platz machen müsse. Zuerst hatten wir unsere Hoffnungen an die NÖP geknüpft."5)

Unter „normalen Verhältnissen" verstand Dirksen also die Restauration des Kapitalismus. Die Tätigkeit der deutschen Diplomaten sollte also eine solche Restauration fördern, mit anderen Worten, die Konterrevolution unterstützen.

Am 16. April 1922 kam es zur Unterzeichnung des Rapallovertrages6) zwischen Sowjetrußland und Deutschland. Der Versuch der Ententemächte, eine Einheitsfront der kapitalistischen Staaten gegen die Sowjetrepublik zu schaffen, war gescheitert. Sie hatten gehofft, unter Ausnutzung der NÖP über Wirtschaftsbeziehungen die Konterrevolution in Sowjetrußland zu stärken. Die deutschen Vertreter erhofften sich zugleich eine Durchbrechung des Versailler Vertrages. Diejenigen deutschen Kapitalisten, die die traditionellen Handelsbeziehungen mit Rußland wieder aufnehmen wollten, sahen in diesem Vertrag für ihren Export nach Sowjetrußland günstige Möglichkeiten.

Lenin hatte die Strategie der Vertreter der kapitalistischen Länder schon vor dem Beginn der Weltwirtschaftskonferenz in Genua durchschaut. „Wir verstehen ausgezeichnet, was diesem Spiel zugrunde liegt: Wir wissen, daß sein Kern der Handel ist. Die bürgerlichen Länder müssen mit Rußland Handel treiben..."7) Anders würden die kapitalistischen Länder nicht aus der Nachkriegskrise herauskommen, „trotz aller ihrer großen Siege, trotz all der endlosen Prahlereien, mit denen sie die Zeitungen und Telegramme der ganzen Welt füllen."8)

Desgleichen war sich Lenin über die Absichten der „Herren europäischen Diplomaten" im Klaren, über Wirtschaftsbeziehungen Sowjetrußland „Bedingungen" zu stellen, „Prüfungen" aufzuerlegen und andere Drohungen mehr zu realisieren. Was sie im Interventionskrieg nicht erreichten, wollten sie nun über den Handel durchsetzen.9)

Den Abschluß des Rapallovertrages bezeichnete Lenin als einen bedeutenden Erfolg der Sowjetdiplomatie. Die sowjetische Delegation habe „die volle Souveränität der RSFSR" verteidigt, „Versuche einer Unterjochung und einer Wiederherstellung des Privateigentums" vereitelt. Die Beschlüsse der Konferenz mußten die „Gleichberechtigung der beiden Eigentumssysteme ... anerkennen ..., wenn auch nur indirekt, den Zusammenbruch, den Bankrott" des privatkapitalistischen Eigentumssystem und die „Unver-meidlichkeit eines Übereinkommens" mit dem ... sozialistischen zugeben.

„Eine wirkliche Gleichberechtigung der beiden Eigentumssysteme, wenigstens als vorläufiger Zustand, solange nicht die ganze Welt vom Privateigentum und dem ökonomischen Chaos und den Kriegen, die es erzeugt, zur höheren Form des Eigentums übergegangen ist, findet sich nur im Vertrag von Rapallo..."10)

Es war klar, daß dieser Vertrag den reaktionärsten Kreisen des deutschen Monopolkapitals nicht gefiel, wie die Ermordung des Außenministers Walter Rathenau am 24. Juni 1922 bewies.

2.1.2. Der Dawesplan

Die Ententemächte und die USA bemühten sich nach und trotz des Rapallovertrages, Deutschland in eine antisowjetische Front einzubinden. Diesem Vorhaben diente der auf der Londoner Konferenz (16. Juli - 16. August 1924) ausgehandelte sogenannte „Dawesplan".11) Zusammengefaßt bestand sein Inhalt in dem Versuch, den Kampf zwischen Frankreich und Großbritannien um die Hegemonie in Europa, den Kampf zwischen Großbritannien und den USA um die Beherrschung des Weltmarktes zu „regeln", die Reparationsleistungen Deutschlands neu festzulegen, um die Rückzahlungen der Kriegsschulden Frankreichs und Großbritanniens an die USA zu gewährleisten, den deutschen Imperialismus zu stabilisieren und nach Osten, gegen die Sowjetunion zu lenken. In einer Rede vom 3. Oktober erklärte der britische Politiker Stanley Baldwin12) unmißverständlich:

„Der Schutzwall der westeuropäischen Zivilisation muß stark und fest sein, damit er allen zerstörenden Angriffen aus dem Osten standhalten kann. Hierfür gibt es kein besseres und sichereres Mittel als die Verwirklichung des Dawesplanes, der den deutschen Markt mit den Weltmärkten in Fühlung bringen wird.

...Meines Erachtens wäre es für den Welthandel am vorteilhaftesten, den Handel mit Rußland unter Mitwirkung Deutschlands zu entwickeln, damit Deutschland seinen Exportüberschuß, der die Zahlung der Reparationen einigermaßen also auch die Zinsentilgung unserer Schulden an Amerika, ermöglichen soll, auf dem russischen Markt realisiert, anstatt daß es diese Masse von Exportwaren in unserem Land oder in unseren Kolonien auf den Markt wirft."13)

Eine ausführliche Einschätzung des Dawesplan findet sich in Stalins Artikel: „Zur internationalen Lage" in der Zeitschrift „Bolschewik", Nr. 11 vom 20. September 1924.14)

Die Entente habe sich als ohnmächtig erwiesen, mit den Ergebnissen ihrer militärischen Siege fertig zu werden. Deutschland zu schlagen und die Sowjetunion einzukreisen, einen Plan zur Ausplünderung Europas aufzustellen, dies sei ihr gelungen. „Den Ausplünderungsplan auszuführen, war sie jedoch außerstande. Warum? Weil die Gegensätze zwischen den Ententeländern zu groß sind. Weil es ihnen nicht gelungen ist und nicht gelingen wird, sich über die Teilung der Beute einig zu werden. Weil der Widerstand der Länder, die ausgeplündert werden sollen, immer ernster wird. Weil die Verwirklichung des Ausplünderungsplans die Gefahr militärischer Zusammenstöße in sich birgt, die Massen aber keinen Krieg wollen."15)

Die Taktik des „Frontalangriffs" Frankreichs gegen Deutschland, nämlich durch die Ruhrbesetzung16) aus Deutschland unbezahlbare Reparationsleistungen herauszuschlagen, sei gescheitert, habe sich „für den Imperialismus selbst als gefährlich erwiesen." Die „offen imperialistische Politik der Ultimaten, die auf die Isolierung der Sowjetunion berechnet" sei, habe nur „gegenteilige Ergebnisse" gezeitigt, habe „den Widerstand der Massen gegen den Imperialismus" hervorgerufen und „die Massen zur Revolution" getrieben.

„Daher mußte die Bourgeoisie zwangsläufig von der Politik des Frontalangriffs zur Politik der Kompromisse, vom offenen Imperialismus zum verkappten Imperialismus, von Poincaré und Curzon zu MacDonald und Herriot übergehen. Die Welt unverhüllt auszuplündern, ist nicht mehr ungefährlich. Die Arbeiterpartei in England und der Linksblock in Frankreich sollen die Blöße des Imperialismus verdecken. Das ist der Ursprung des ‘Pazifismus’ und des ‘Demokratismus’."17)

Der Pazifismus bedeute den direkten oder indirekten Machtantritt der Parteien der II. Internationale. Diese seien eine Stütze des Imperialismus. Wenn die Machtausübung der Imperialisten mit der Methode des Faschismus, der offenen, unverhüllten Konfrontation mit der Masse der Arbeiter zu gefährlich geworden ist, dann werde die Methode des „Demokratismus", des „Pazifismus", vorgezogen. In bestimmten Situationen sei die Machtausübung der Bourgeoisie durch Parteien der II. Internationale sicherer als durch offen konservative Parteien. Stalin gab hier eine erste Definition des Faschismus als „eine Kampforganisation der Bourgeoisie, die sich auf die aktive Unterstützung der Sozialdemokratie stützt."18)

Diese anfechtbare Definition gab Stalin im September 1924. Dies ist zu beachten. Praktische Erfahrungen lagen nur aus dem faschistischen Italien und aus faschistischen Bewegungen in Deutschland und anderen westeuropäischen Staaten vor.

„Diese Organisationen (Faschismus und Sozialdemokratie, UH) schließen einander nicht aus, sondern ergänzen einander. Das sind keine Antipoden, sondern Zwillingsbrüder. Der Faschismus ist der nicht ausgestaltete politische Block dieser beiden grundlegenden Organisationen, der unter den Verhältnissen der Nachkriegskrise des Imperialismus entstanden und auf den Kampf gegen die proletarische Revolution berechnet ist. Die Bourgeoisie kann sich ohne das Vorhandensein eines solchen Blocks nicht an der Macht behaupten. Darum wäre es ein Fehler, wollte man glauben, der ‘Pazifismus’ bedeute die Beseitigung des Faschismus. ‘Pazifismus’ unter den jetzigen Verhältnissen bedeutet Festigung des Faschismus, wobei sein gemäßigter, sozialdemokratischer Flügel in den Vordergrund geschoben wird."19)

Zu dieser Einschätzung gelangte Stalin 1924 auf Grund der bis dahin vorliegenden Erfahrungen mit der konterrevolutionären Rolle der Sozialdemokratie in allen westlichen Ländern, speziell in Deutschland und während der Oktoberrevolution sowie während des Bürger- und Interventionskrieges.

Des weiteren hat Stalin offenbar alle konservativen, reaktionären Organisationen unter den Begriff des Faschismus subsumiert, die Unterschiede zwischen ihnen ignoriert. Konterrevolutionäre Parteien, Organisationen können, aber müssen nicht, faschistisch sein. Die Konterrevolution hat viele Gesichter. Richtig bleibt in der Einschätzung Stalins, daß die Sozialdemokratie in bestimmten, für die Bourgeoisie kritischen, Situationen sich als Regierung besser eignet zur Abhaltung der Massen von revolutionären Aktionen als offen konservative Regierungen. Die Zerstörung des europäischen Sozialismus konnte nur unter revisionistischen, sozialdemokratischen Losungen erfolgen, unter offenen, unverhüllten faschistischen Losungen wäre sie nicht gelungen. Im Endeffekt kommt beides auf das Gleiche hinaus, und das ist wohl der rationelle Kern in Stalins These von den „Zwillingsbrüdern".

Desgleichen unterzog Stalin den bürgerlichen Pazifismus einer scharfen Kritik. Der Pazifismus habe aber auch noch eine andere, für die Bourgeoisie nicht ungefährliche Seite. Er führe zu einer „gewaltigen Aufrüttelung der Volksmassen und ihre(r) Hineinziehung in die Politik", er unterwühle die bürgerliche Macht, bereite „den Boden für revolutionäre Erschütterungen" vor. Dennoch bleibe der Pazifismus eine „ernstliche Gefahr für die Revolution." Da die Ausführungen Stalins einige Züge enthalten, die nach wie vor aktuell sind, werden sie in vollem Wortlaut dokumentiert:

„Der Pazifismus führt zur Untergrabung der Grundlagen der bürgerlichen Macht, er bereitet Bedingungen vor, die für die Revolution günstig sind. Aber der Pazifismus kann zu solchen Ergebnissen nur gegen den Willen der ‘Pazifisten’ und ‘Demokraten’ selbst führen, nur wenn die kommunistischen Parteien energisch an der Entlarvung der imperialistischen und konterrevolutionären Natur der pazifistisch-demokratischen Regierungen Herriots und MacDonalds arbeiten. Was den Willen der Pazifisten und Demokraten selbst betrifft, was die Politik der Imperialisten selbst betrifft, so verfolgen sie mit dem Pazifismus nur ein Ziel: die Massen mit tönenden Redensarten über Frieden zu betrügen, um einen neuen Krieg vorzubereiten, sie mit dem Glanz des ‘Demokratismus’ zu blenden, um die Diktatur der Bourgeoisie zu behaupten, die Massen mit dem Lärm um die ‘souveränen’ Rechte der Nationen und Staaten zu betäuben, um desto erfolgreicher die Intervention in China, ein Gemetzel in Afghanistan und im Sudan, die Zerstückelung Persiens vorzubereiten; sie mit marktschreierischem Geschwätz über ‘freundschaftliche’ Beziehungen zur Sowjetunion, über diese oder jene ‘Verträge’ mit der Sowjetregierung zum Narren zu halten, um in desto engere Verbindung mit den aus Rußland hinausgeworfenen konterrevolutionären Verschwörern zwecks Organisierung von Banditenüberfällen in Bjelorußland, in der Ukraine, in Georgien zu treten. Die Bourgeoisie braucht den Pazifismus zur Maskierung. In dieser Maskierung liegt die Hauptgefahr des Pazifismus.

Ob die Bourgeoisie ihr Ziel, das Volk zu betrügen, erreichen wird, hängt davon ab, mit welcher Energie die kommunistischen Parteien des Westens und des Ostens an ihrer Entlarvung arbeiten werden, es hängt von der Fähigkeit dieser Parteien ab, den pazifistisch verkleideten Imperialisten die Maske herunterzureißen. Zweifellos werden die Ereignisse und die Praxis in dieser Beziehung für die Kommunisten arbeiten, indem sie einen Keil zwischen die pazifistischen Worte und die imperialistischen Taten der demokratischen Lakaien des Kapitals treiben. Es ist die Pflicht der Kommunisten, nicht hinter den Ereignissen zurückzubleiben und erbarmungslos jeden Schritt der Parteien der II. Internationale, jeden Lakaiendienst, den sie dem Imperialismus leisten, und jeden Verrat, den sie am Proletariat begehen, zu entlarven."20)

Der Pazifismus kann zu spontanen Massenaktionen führen. Die Spontaneität ist nach Lenin die Vorstufe der Bewußtheit. Die Massen können aber von sich aus nicht zu theoretischen Einsichten über den Imperialismus gelangen, können nicht erkennen, daß der Krieg eine gesetzmäßige Erscheinung des imperialistischen Systems ist. Darin liegt die Verantwortung der Kommunistischen Partei, die Erfahrungen der Massen, die spontane Friedensbewegung mit der marxistisch-leninistischen Theorie, insbesondere der Leninschen Imperialismustheorie zu verbinden. Gelingt dies nicht, laufen die spontanen Bewegungen, so gewaltig sie erscheinen mögen, letztendlich ins Leere. Der Sturz des imperialistischen Systems kann nicht durch spontane Bewegungen erfolgen. Insofern hat Stalin recht, wenn er es als „die Pflicht der Kommunisten" bezeichnet, „erbarmungslos jeden Schritt der Parteien der II. Internationale, jeden Lakaiendienst, den sie den Imperialismus leisten, und jeden Verrat, den sie am Proletariat begehen, zu entlarven."

Der Dawesplan war ein groß angelegter Versuch zur Stabilisierung des kapitalistischen Weltsystems. Eine dauerhafte Stabilisierung des Kapitalismus war und ist jedoch eine historisch unlösbare Aufgabe. Fritz Klein wies darauf hin, daß Stalin schon 1924 die durch den Dawesplan vollendete Stabilisierung Deutschlands als eine „relative Stabilisierung" bezeichnete und führte eine diesbezügliche Äußerung Stalins in einem Interview an:

„Ich denke, daß der Dawesplan manche Resultate zeitigte, die zur relativen Stabilisierung der Lage führten. Die Tatsache, daß das amerikanische Kapital in der deutschen Industrie Fuß gefaßt hat, die Stabilisierung der deutschen Währung und die Hebung einer Reihe der wichtigsten deutschen Industriezweige, was keinesfalls eine durchgreifende Gesundung der deutschen Wirtschaft bedeutet - schließlich eine gewisse Besserung der materiellen Lage der Arbeiterklasse, all dies rief eine gewisse Festigung der Lage der Bourgeoisie hervor. Diese Tatsachen stellen sozusagen die positive Seite des Dawesplanes dar.

Der Dawesplan hat jedoch negative Seiten, die in einer bestimmten Periode unvermeidlich in Erscheinung treten und seine positiven Seiten sprengen werden. Es ist zweifellos, daß der Dawesplan für das deutsche Proletariat einen zweifachen ... Druck bedeutet. Die Gegensätze und Widersprüche zwischen der Erweiterung der deutschen Industrie einerseits, das Mißverhältnis zwischen den ungeheuren Forderungen der Ententemächte einerseits und den begrenzten Möglichkeiten der Erfüllung dieser Forderung seitens der deutschen Volkswirtschaft andererseits, all dies verschlechtert unvermeidlich die Lage des Proletariats, der Kleinbauern, Angestellten und Intellektuellen und muß zur Explosion ... führen."21)

So konnte die Londoner Konferenz auch nicht die innerimperialistischen Widersprüche lösen. Stalin schrieb dazu: „Es gibt nur eine Schlußfolgerung: Die Londoner Konferenz hat keinen einzigen der alten Gegensätze in Europa gelöst, sie dafür aber durch neue Gegensätze ergänzt, durch Gegensätze zwischen Amerika und England. Es besteht kein Zweifel, daß England nach wie vor den Antagonismus zwischen Frankreich und Deutschland vertiefen wird, um seine politische Vorherrschaft auf dem Kontinent zu sichern. Es besteht kein Zweifel, daß Amerika seinerseits den Antagonismus zwischen England und Frankreich vertiefen wird, um seine Hegemonie auf dem Weltmarkt zu sichern. Wir sprechen schon gar nicht von dem tiefen Antagonismus zwischen Deutschland und der Entente.

Das Weltgeschehen wird von diesen Antagonismen, nicht aber von den ‘pazifistischen’ Reden des Galgenvogels Hughes und des großsprecherischen Herriots bestimmt werden. Das Gesetz von der ungleichmäßigen Entwicklung der imperialistischen Länder und von der Unvermeidlichkeit imperialistischer Kriege bleibt jetzt mehr denn je in Kraft. Die Londoner Konferenz maskiert diese Antagonismen nur, um neue Voraussetzungen für ihre noch nie dagewesene Verschärfung zu schaffen."22)

2.1.3. Das Janusgesicht der Ostpolitik des deutschen Imperialismus

Der am 16. Oktober 1924 abgeschlossene Locarno-Vertrag23) zwischen Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen und der CSR (unterzeichnet am l. Dezember 1925 in London) garantierte die im Versailler Vertrag festgelegten Westgrenzen. Der Versuch der Westmächte, auch die Westgrenzen Polens und der CSR im Vertrag zu garantieren, wurde von den deutschen Vertretern abgelehnt. Der deutsche Imperialismus hatte mit dem Vertrag eine wesentliche Stärkung erhalten. Der Vertrag lenkte die Ambitionen des deutschen Imperialismus eindeutig in Richtung Osten; er war in erster Linie gegen Polen gerichtet. Nach dem deutschen Außenminister, Gustav Stresemann, ermöglichte der Vertrag „den Weg der Konsolidierung und Wiederaufrichtung Deutschlands in der Konzentrierung auf das Bestreben der späteren Angliederung deutscher Gebiete in Osten zu gehen."24)

Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion wurden zwar ständig ausgebaut, aber nicht zuletzt als Druckmittel gegen die Ententemächte von deutscher Seite verstanden. So kam es am 12. November 1925 zu einem Wirtschaftsabkommen und am 24. April 1926 zum Abschluß eines Freundschafts- und Neutralitätsvertrages zwischen Deutschland und der UdSSR, letzterer als „Berliner Vertrag"25) bezeichnet, mit einer Laufzeit von fünf Jahren. Der Berliner Vertrag wurde im Deutschen Reichstag am 29. Juni 1926 fast einstimmig ratifiziert.

Auf dem von der „Allunions-Gesellschaft für kulturelle Verbindung mit dem Ausland" in Moskau veranstalteten Abend der deutsch-sowjetischen Annäherung am 1. Oktober 1925 erklärte Maxim Litwinow als Mitglied des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten:

„Ich bin überzeugt, daß die Politik der Sowjetunion, die dem aufrichtigen Wunsch nach dem Frieden von Seiten der Völker der Sowjetunion entspricht, ebenso den Interessen und Bestrebungen des deutschen Volkes entspricht. Deshalb erscheint die gegenseitige Zusammenordnung der Bemühungen Deutschlands und der Sowjetunion und die loyale Fortsetzung der Linie, die durch die zwischen uns geschlossenen Verabredungen bezeichnet ist, als die unbedingt unersetzbare Garantie dafür, daß der Frieden im allgemeinen und im Osten Europas im besonderen nicht gestört werden wird."26)

Die vorgesehene Verlängerung des Vertrages um ein Jahr wurde 1931 im Reichstag nicht ratifiziert. Erst im Mai 1933, nach der Machtübergabe an Hitler ließ dieser ihn im Reichstag ratifizieren. 1936 weigerte sich die faschistische Regierung, den Berliner Vertrag erneut zu verlängern.

Fritz Klein verweist auch auf den Hintergrund des Berliner Vertrages. Er wurde von deutscher Seite nicht gerade aus reiner Friedensliebe abgeschlossen. Im März war die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund an einer französich-polnischen Intrige gescheitert. Der Berliner Vertrag fand von deutscher Seite eben auch als Druckmittel gegen Frankreich Verwendung. Nach Abschluß des Vertrages wurde Deutschland im September in den Völkerbund aufgenommen.27)

Im Mai 1927 veranlaßte die britische Regierung eine Provokation gegen die Sowjetunion, den Überfall auf die sowjetische Handelsmission „Arcos", die sie von Polizei durchsuchen ließ. Diese Provokation gab der Regierung den gewünschten Anlaß zum Abbruch der Beziehungen zur Sowjetunion.

Die Rechnung Chamberlains, Deutschland ebenfalls zum Abbruch der Beziehungen zur Sowjetunion zu bewegen und in eine antisowjetische Front zu bringen, ging allerdings nicht auf. Die Antwort Stresemanns an Chamberlain ist jedoch aufschlußreich für den wirklichen Zweck der Handelsbeziehungen Deutschlands mit der Sowjetunion: „Wir halten es für falsch, Rußland etwa durch irgendein gemeinsames Vorgehen bewußt zu isolieren...."

„Wir haben mit Rußland Kreditverhandlungen geführt und stehen mit ihm in einem regen Güteraustausch. Nicht nur weil wir ihn brauchen, sondern weil ich der Meinung bin, daß es notwendig ist, Rußlands Wirtschaft so eng mit dem kapitalistischen System der westeuropäischen Mächte zu verknüpfen, daß wir dadurch den Weg ebnen für eine Evolution in Rußland, die meiner Meinung nach allein die Möglichkeit gibt, aus Sowjetrußland einen Staat und eine Wirtschaft zu machen, mit der sich leben läßt."28)

Die Ziele der deutschen und englischen Imperialisten bezüglich der Sowjetunion waren die gleichen. Sie unterschieden sich lediglich hinsichtlich ihrer Interessenlagen und dadurch ihrer Methoden. Am 6. Dezember 1928 hielt Direktor Kraemer, der Vorsitzende des „Rußlandausschuß der deutschen Wirtschaft" und Präsidialmitglied des „Reichsverbandes der Deutschen Industrie" auf der XXXIII. Ordentlichen Mitgliederversammlung des „Deutsch-Russischen Vereins" eine Rede, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ:

„Das alte Sprichwort ‘Der Handel folgt der Flagge’ wird heute ersetzt durch das Wort: ‘Der Handel folgt der Kapitalinvestierung’. Wer das Kapital hat, kann sich mit seiner Hilfe in viel höherem Maße als mit militärischer Macht ein Land wirtschaftlich erschließen. Wir sehen an dem Beispiel der Vereinigten Staaten in ihrer Betätigung in Mittel- und Südamerika, wie zunächst die Anleihe erscheint und hinter der Anleihe erst der Handlungsreisende... Der Osten soll zur Domäne der deutschen Wirtschaftsausbreitung werden, und er kann es werden... Meine sehr geehrten Herren, vor wenigen Tagen erst hat im Rußlandausschuß der deutschen Wirtschaft einer der ihnen bekannten Führer der deutschen Industrie erklärt, daß an den viele Millionen umfassenden Lieferungen seiner weltbekannten Firma nach Rußland nicht ein Pfennig verdient worden ist, ... weil kleine, der Materie gar nicht gewachsene Firmen die großen Firmen unterboten haben... Die wirtschaftlichen Dinge wie die politischen sind nicht für die Ewigkeit bestimmt... Ich glaube nicht daran, daß die Träume der Weltrevolution... reifen, und daß die gesamte Welt erfüllt werden könnte von dem Geist, der heute zwar im Kreml, aber nicht mehr in ganz Rußland herrscht... Und darum glaube ich, daß eines Tages die Vernunft, die wirtschaftliche Vernunft, die sich vereinzelt heute schon in führenden Kreisen in Rußland zeigt, siegen wird über das, was wir heute vom Standpunkt der Wirtschaft aus mit Sorge betrachten: über die Formen der Staatswirtschaft, wie sie heute in Rußland betrieben wird."29)

Kraemer nannte keine Namen wer die „führenden Kreise" in der Sowjetunion sein sollten die sich durch „wirtschaftliche Vernunft" auszeichneten. Fritz Klein weist auf die Gruppe um Trotzki hin, bei der man „am meisten ‘Verständnis’ für die Interessen ausländischer Kapitalisten erwarten könne." Trotzki erwiese sich erneut als „Verbündeter derjenigen Schichten in Deutschland, die auf den Sturz der Sowjetmacht hinarbeiten, ..."30) Klein hätte noch Bucharin und einige andere „führende Kreise" hinzufügen können.

Es gab aber noch einiges mehr. Herbert von Dirksen, 1928 bis 1933 deutscher Botschafter in der Sowjetunion, berichtete in seinen Erinnerungen sehr freimütig über die Tätigkeit deutscher Ingenieure in der Sowjetunion. Nach seinen Angaben arbeiteten im gesamten Gebiet der Sowjetunion etwa 5.000 deutsche Fachleute, über die er schreibt: „Die Hervorragenderen unter ihnen hielten enge Fühlung mit der Botschaft und mit den Konsulaten, auf diese Art waren wir nicht nur über die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, sondern auch über andere Fragen, wie die allgemeine Stimmung und die Entwicklung innerhalb der Partei, gründlich unterrichtet. Ich glaube nicht, daß irgendein Land vorher oder nachher über ein so eingehendes Informationsmaterial über die Sowjetunion verfügte, wie Deutschland während dieser Jahre."31)

Deutsche Ingenieure waren auch in den groß angelegten Sabotageaktivitäten im Donezgebiet verwickelt, wie im Schachty-Prozeß (März - Juli 1928) bewiesen. Die einzige Strafe, die die ausländischen Angeklagten erhielten, war ihre Ausweisung aus der UdSSR.

Abschließend über die Ziele der deutschen Imperialisten in den Wirtschaftsbeziehungen zur Sowjetunion sei noch aus einem Schreiben von Edmund Hugo Stinnes an Hitler vom 9. Juli 1931 zitiert:

„Die Ausweitung des deutschen Raumes nach Osten und Südosten Europas erscheint mir derzeit nicht durch Verschiebung der Ostgrenzen möglich, aber durch deren weitgehende Auflösung (zum Beispiel durch Zollvereine). Dann sollte es angehen, bis zu den Pripetsümpfen und der Donaumündung unserem unerträglich zusammengedrängten Volk Lebensraum, Ackerland und Arbeitsgelegenheit zu geben."32)

Die Wirtschaftsverträge zwischen der Sowjetunion und Deutschland trugen von Seiten der deutschen Imperialisten ein Janusgesicht. Es ging ihnen nicht nur um die Zerstörung der sozialistischen Ordnung in der Sowjetunion, es ging ihnen um Eroberung neuer „Lebensräume", nicht nur in Rußland, sondern im Osten und Südosten insgesamt, unabhängig von der Gesellschaftsordnung, die in diesem oder jenem Lande bestehen sollte. Was die deutschen Imperialisten im Ersten Weltkrieg nicht erreichen konnten, sollte - zunächst! - mit wirtschaftlichen Mitteln erreicht werden, solange, wie sie militärisch noch zu schwach waren, um einen neuen Raub- und Eroberungskrieg zu beginnen.

2.1.4. Über die Gefahr eines konterrevolutionären Krieges gegen die UdSSR

Die Sowjetregierung hat das Spiel der Ententemächte, der USA, Japans und Deutschlands natürlich durchschaut, wie aus den Reden und Schriften Stalins hervorgeht. In einem Zeitungsartikel für die Prawda vom 28. Juli 1927, „Notizen über Gegenwartsthemen" ging Stalin ausführlich auf die Kriegsgefahr ein.33)

Es sei ein „wütender Kampf um die Absatzmärkte, um Märkte für Kapitalausfuhr, um die See- und Landwege zu diesen Märkten, um eine abermalige Neuaufteilung der Welt ... im Gange."34)

Die Gegensätze zwischen und innerhalb der kapitalistischen Länder verschärfen sich. Ungeachtet der Stabilisierung verstärke sich die „Krise des Weltkapitalismus". Die Existenz und das Gedeihen der UdSSR vertiefe diese Krise. Die Imperialisten sehen in einem neuen Krieg „den einzigen Ausweg zur Überwindung dieser Krise."

Beispielloses Anwachsen der Rüstungen, Kurs der bürgerlichen Regierungen auf faschistische „Regierungs"methoden, Kreuzzug gegen die Kommunisten, wüste Hetze gegen die UdSSR, direkte Intervention in China zeugen von der „Vorbereitung zu einem neuen Krieg für eine abermalige Neuaufteilung der Welt." Die Furcht, einander zu schwächen, damit die Möglichkeit einer „neue(n) Durchbrechung der imperialistischen Front" zu erleichtern, halte die Imperialisten „zunächst" davor zurück, „einander in die Haare zu geraten."

Gewisse Kreise der Imperialisten versuchten, eine Einheitsfront gegen die UdSSR zu schaffen, die sich vertiefende Krise des Kapitalismus „wenigstens teilweise, wenigstens zeitweilig auf Kosten der UdSSR zu überwinden."35)

Die Initiative für die Schaffung dieser antisowjetischen „Heiligen Allianz" habe die englische Bourgeoisie ergriffen. „Der englische Kapitalismus war, ist und bleibt der schlimmste Würger der Volksrevolution."36)

Dies war 1927 richtig, nach 1933 hatte der faschistische deutsche Imperialismus und nach 1945 der US-Imperialismus den englischen in dieser Rolle abgelöst. Das heißt natürlich nicht, daß die anderen imperialistischen Mächte etwa „besser" sind, sondern daß sie zur Zeit und in einem überschaubaren Zeitraum schwächer sind als der US-Imperialismus.

Stalin nannte einige „direkte Aktionen" der britischen konservativen Regierung gegen die UdSSR. Den ersten offenen Schlag führte die englische konservative Regierung in Peking beim Überfall auf die Sowjetbotschaft, einmal, um „grauenerregende" Dokumente über die „Zerstörungs"arbeit der UdSSR zutage zu fördern, zum anderen, um die UdSSR in einen Krieg mit China zu verwickeln.37)

Den zweiten offenen Schlag führte die englische Regierung in London mit dem Überfall auf die sowjetische Handelsvertretung „Arcos" (3. Mai 1927) und dem Abbruch der diplomatischen- und Handelsbeziehungen mit der UdSSR. Der dritte offene Schlag war die Organisierung der Ermordung von P.L. Woikow, dem bevollmächtigten Vertreter der UdSSR in Polen, am 7. Juni 1927 in Warschau. Dieser Mord sollte die Rolle des „Mordes von Sarajewo" spielen und „die UdSSR in einen militärischen Konflikt mit Polen verwickeln."38) Diese Aktionen seien kein Zufall, sie würden „sich mit neuer Kraft" wiederholen. Die englische Regierung organisiere eine Finanzblockade gegen die UdSSR, unterstütze Emigranten„regierungen" der Ukraine, Georgiens, Aserbaidshans, Armeniens usw. „zwecks Aufständen in diesen Ländern", finanziere Spionage- und Terrorgruppen, die „Brücken sprengen, Fabriken in Brand stecken und diplomatische Vertreter der UdSSR terrorisieren...," Dies alles zeuge davon, daß die englische konservative Regierung fest und entschlossen den Weg der Organisierung eines Krieges gegen die UdSSR betreten hat."39)

Im Abschnitt l der Resolution des Vereinigten Plenums des ZK und der ZKK der KPdSU (B) (29. Juli - 9. August 1927) über die internationale Lage hieß es: „Die gegenwärtige internationale Lage ist in erster Linie durch die äußerst gespannten Beziehungen zwischen dem imperialistischen England und der proletarischen UdSSR einerseits und durch die militärische Intervention des Imperialismus in China andererseits gekennzeichnet. Die Gefahr eines konterrevolutionären Krieges gegen die UdSSR ist das brennendste Problem der gegenwärtigen Periode."40)

Aus der vorwiegend von der englischen Bourgeoisie erzeugten Kriegsgefahr leitete Stalin die Aufgaben der Partei ab: in allen Ländern Europas „Alarm zu schlagen", die Wachsamkeit der Arbeiter und Soldaten der kapitalistischen Länder zu erhöhen, die Massen darauf vorzubereiten, den „Versuchen der bürgerlichen Regierungen zur Organisierung eines neuen Krieges wohlgerüstet, mit revolutionärem Kampf zu begegnen...." Die reformistischen Führer in der Arbeiterbewegung seien anzuprangern, „die die Gefahr eines neuen Krieges ‘für ein Hirngespinst halten’, die die Arbeiter mit pazifistischen Lügen einlullen, ..." Die Sowjetregierung werde „auch fernerhin fest und unerschütterlich eine Politik des Friedens, eine Politik der friedlichen Beziehungen" betreiben, ungeachtet aller Provokationen.41)

Die Wehrfähigkeit des Landes sei zu erhöhen, die Kriegs- und Friedensindustrie zu verbessern. Der Wille der Arbeiter, Bauern und Rotarmisten zur Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes sei zu erhöhen, das Hinterland zu festigen, mit Terroristen und Brandstiftern, die unsere Fabriken und Werke anstecken, sei kurzer Prozeß zu machen, „denn die Verteidigung unseres Landes ist ohne ein starkes revolutionäres Hinterland unmöglich."42)

Das waren keine leeren Worte. Auf Grund des Urteils des Kollegiums des OGPU der UdSSR vom 9. Juni 1927 erfolgte die Erschießung von zwanzig weißgardistischen Monarchisten wegen terroristischer Tätigkeit, Diversions- und Spionagetätigkeit im Auftrag ausländischer Staaten. Unter den Verurteilten befanden sich ehemalige russische Fürsten und Adlige, Großgrundbesitzer, Industrielle, Kaufleute und Gardeoffiziere der zaristischen Armee.43)

Über die Erschießung der zwanzig „erlauchten" Terroristen und Brandstifter gab es ein großes Geschrei unter „bestimmten Schichten der pazifistischen und der liberal-reaktionären Bourgeoisie".44)

Auf dem Vereinigten Plenum des ZK und der ZKK der KPdSU (B) (29. Juli - 9. August 1927) wies Stalin auf „eine gewisse Sorte Leute" auch in der Sowjetunion hin, die meinten, „je ruhiger wir uns verhielten, um so besser wäre es für uns." Es hätte „gut um die Sache der UdSSR" gestanden, nach Abbruch der Beziehungen zur Sowjetunion durch England, nach der Ermordung Wojkows, „aber die Sache der UdSSR verschlechterte sich, als wir die Zähne zeigten und die Ermordung Wojkows mit der Erschießung der 20 ‘erlauchten’ Konterrevolutionäre beantworteten; bis zur Erschießung der Zwanzig brachte man uns in Europa Mitgefühl und Sympathie entgegen; nach der Erschießung dagegen hörte die Sympathie auf, und man begann uns vorzuwerfen, daß wir nicht die braven Kinder sind, als die uns die öffentliche Meinung Europas sehen möchte."45)

Er wandte sich entschieden gegen diese „reaktionär-liberale Philosophie". Ihre Urheber möchten „die UdSSR ohnmächtig, unbewaffnet sehen..., vor den Feinden in die Knie sinkend, vor ihnen kapitulierend."46)

Die Erschießung der zwanzig Konterrevolutionäre war Ausdruck der Schärfe des Klassenkampfes in der UdSSR, der haßerfüllten Aggressionspolitik der ausländischen, in dieser Zeit besonders der englischen Imperialisten, die vor keinem Verbrechen gegen die UdSSR zurückschreckten.

Die Härte dieses Klassenkampfes ging und geht offenbar über das Verständnis kleinbürgerlicher Intellektueller hinaus. Kommunismus ist Aufhebung des Privateigentums. Das Privateigentum ist ein gesellschaftliches Verhältnis, das Nichteigentümer als Ausbeutungfsobjekte für die Verwertung des Privateigentums an den Produktionsmitteln voraussetzt. Natürlich verteidigen die Eigentümer mit allen Mitteln ihre Macht und Herrschaft und läßt sie in diesem Kampf vor keinem Verbrechen zurückschrecken. Nach abstrakten moralischen „Kriterien" läßt sich dieser Klassenkampf nicht beurteilen. Der Kampf um die „Expropriation der Expropriateure" (Marx) ist ein Kampf auf Leben und Tod und wird es auch in Zukunft bleiben. Zu erwarten, auf friedlich parlamentarischem Wege in den Kommunismus hinübergleiten zu können, war und bleibt eine Illusion, die, wenn sie umsichgreift, zur ideologischen Entwaffnung dar Arbeiterklasse führt. Darum finden die kleinbürgerlichen Sozialismusträume auch die wohlwollende Sympathie eines Teiles der Bourgeoisie, die sich gern ihrer Interpreten bedienen, wenn das kapitalistische System auf Grund seiner inneren Widersprüche in die Krise gerät, wenigstens solange, wie die Masse der Nichteigentümer, (lat. Proletarier) sich von den Gesängen über die „soziale Gerechtigkeit" einlullen läßt.

So zeichnete sich die Antwort Stalins auch nicht gerade durch besondere Höflichkeit aus: „Mögen sich alle diese liberal-pazifistischen Philosophen mit ihrer ‘Sympathie’ für die UdSSR zum Teufel scheren. Wenn wir nur die Sympathie der Millionenmassen der Werktätigen haben - das übrige wird sich finden, und wenn schon unbedingt jemand ‘bluten’ soll, so werden wir alles daransetzen, daß nicht die UdSSR, sondern irgendein bürgerliches Land blutig geschlagen wird und ‘blutet’".47)

2.1.5. Die Unvermeidlichkeit eines neuen imperialistischen Krieges

Die Verschärfung der Krise des Kapitalismus trotz der Stabilisierung führte Stalin drauf zurück, daß der Kapitalismus „in letzter Zeit seine Technik vervollkommnet und nationalisiert hat und dadurch gewaltige Warenmengen erzeugt, die nicht realisiert werden können, ... die kapitalistischen Regierungen sich immer mehr faschisieren und zu Angriffen gegen die Arbeiterklasse übergehen..." Diese Tatsachen „führen zur Verschärfung der Krise des Weltkapitalismus, die unvergleichlich tiefer ist als die Krise vor dem letzten imperialistischen Krieg." Dies führe dazu, „daß sich der Kampf um die Absatzmärkte für die Kapitalausfuhr im Lager der Imperialisten verschärft, daß die Voraussetzungen für einen neuen Krieg, für eine abermalige Neuaufteilung der Welt entstehen."48)

Daraus folge, daß dieser verzweifelte Kampf um eine Neuaufteilung „einen neuen imperialistischen Krieg bereits unvermeidlich gemacht hat."49)

Gewisse „imperialistische Kreise" blicken „mit scheelen Augen auf die UdSSR und organisieren eine Einheitsfront gegen sie...", weil sie „ein großartiger Markt für Absatz und Kapitalausfuhr ist..." Darin sah Stalin „Ursache und Quelle der Unvermeidlichkeit eines neuen Krieges, ganz gleich, ob er zwischen einzelnen imperialistischen Koalitionen oder gegen die UdSSR entbrennt."50)

Auf dem XV. Parteitag der KPdSU (B) (2. - 19. Dezember 1927) konkretisierte Stalin seine bisherigen Ausführungen über die Unvermeid-lichkeit eines neuen imperialistischen Krieges.51)

Die Entwicklung der Krise verlaufe ungleichmäßig. Es gäbe einige kapitalistische Länder, „die nicht vorwärtsschreiten, sondern vorwärtsspringen und das Vorkriegsniveau weit hinter sich lassen", so die USA, in „geringerem Maße auch Japan."52)

Das Kapital habe Erfolge hinsichtlich des Wachstums der Produktion und des Handels, auf dem Gebiet der Produktionstechnik, des technischen Fortschritts, auf dem Gebiet der Rationalisierung, der weiteren Stärkung der größten Truste und der Gründung neuer, mächtiger monopolistischer Kartelle, aber gleichzeitig blieben der Weltmarkt, die Grenzen der Aufnahmefähigkeit des Marktes unverändert. Daraus erwachse die „tiefste und schärfste Krise des Weltkapitalismus, die ‘mit neuen Kriegen’ schwanger geht."53)

„Aus der teilweisen Stabilisierung erwächst eine Verschärfung der Krise des Kapitalismus, die anwachsende Krise legt die Stabilisierung in Trümmer - das ist die Dialektik der Entwicklung des Kapitalismus im gegebenen historischen Moment."54)

Daraus folge „der ‘allgemeine’ Drang nach einer Neuaufteilung der Märkte und Rohstoffquellen. Es braucht nicht erst bewiesen zu werden, daß die asiatischen Märkte und die Wege dahin die Hauptarena des Kampfes sind. Daher eine Reihe von Schlüsselproblemen, die Herde für neue Zusammenstöße bilden. Daher das sogenannte Pazifikproblem (Antagonismus Amerika - Japan - England) als Ursache des Kampfes um die Vorherrschaft in Asien und auf den Wegen dahin. Daher das Mittelmeerproblem (Antagonismus England - Frankreich - Italien) als Ursache des Kampfes um die Vorherrschaft an den Küsten des Mittelmeers, des Kampfes um die kürzesten Wege nach dem Osten. Daher die Verschärfung des Erdölproblems (Antagonismus England - Amerika), denn ohne Erdöl kann man nicht Krieg führen, wer aber auf dem Gebiet des Erdöls überlegen ist, der hat auch Siegeschancen im kommenden Krieg."55)

Nach der englischen Presse habe Chamberlain einen Plan zur Regelung des Mittelmeerproblems vorgelegt, wonach das „Mandat" über Syrien von Frankreich an Italien verlegt werden solle; Tanger solle gegen finanzielle Abfindung Spaniens an Frankreich fallen, Deutschland solle Kamerun zurückerhalten und Italien solle nicht mehr auf dem Balkan „herumrumoren". „All dies geschieht unter der Flagge gegen die Sowjets. Bekanntlich wird jetzt überhaupt keine einzige Gemeinheit verübt, ohne daß man mit diesem Schmutz die Sowjets in Verbindung bringt."56)

Bezüglich des um das Erdöl entbrannten Kampfes zitierte Stalin aus der US-amerikanischen Zeitschrift „World’s Work"57)

„Darin liegt eine sehr reale Gefahr für den Frieden und das gegenseitige Verständnis zwischen den angelsächsischen Völkern... Das Staatsdepartement wird die amerikanischen Geschäftsleute unweigerlich immer stärker unterstützen, je mehr das Bedürfnis danach zunimmt. Wenn die britische Regierung sich mit der britischen Erdölindustrie identifiziert, so wird auch die amerikanische Regierung sich früher oder später mit der amerikanischen Erdölindustrie identifizieren. Der Kampf kann nicht an die Regierungen übergehen, ohne daß die Kriegsgefahr gewaltig gesteigert wird."58)

Stalin konnte sich in seiner politökonomischen Prognose auf die Arbeiten von Eugen Varga stützen, den Stalin auch mehrfach genannt hat. Varga hatte die Weltwirtschaftskrise Mitte der 20er Jahre fast auf den Tag genau vorausgesagt, eine hervorragende Leistung der marxistisch-leninistischen politischen Ökonomie. Die Analogie zwischen Stalins Ausführungen über den Kampf um das Erdöl mit der US-Kriegspolitik am Beginn des 21. Jahrhunderts bedürfen keines weiteren Kommentars.

Der am 14. Februar 1919 auf Initiative des US-Präsidenten Wilson gegründete Völkerbund58a) - dem die USA selbst nicht beitraten! - erwies sich als völlig unfähig, den Ausbruch neuer imperialistischer Kriege zu verhindern. Ob die UNO dazu in der Lage sein wird, erscheint nach den bisherigen Erfahrungen mehr als zweifelhaft.

Stalin hatte über den Völkerbund als friedenserhaltende Institution keine Illusionen: „Nehmen wir den Völkerbund, der nach Meinung der verlogenen bürgerlichen Presse und der nicht weniger verlogenen sozialdemokratischen Presse ein Instrument des Friedens ist. Wozu hat das Geschwätz des Völkerbunds von Frieden, Abrüstung und Rüstungseinschränkung geführt? Zu nichts Gutem, zu nichts anderem als zum Betrug an den Massen, als zu neuen fieberhaften Rüstungen, als zu einer neuen Verschärfung der heranreifenden Konflikte. Kann man es etwa als Zufall betrachten, daß der Völkerbund drei Jahre lang über Frieden und Abrüstung schwätzt, daß dieses verlogene Geschwätz drei Jahre lang von der sogenannten II. Internationale unterstützt wird, während die ‘Nationen’ immer weiter rüsten und rüsten, die alten Konflikte zwischen den ‘Mächten’ ausweiten, neue Konflikte auftürmen und auf diese Weise den Frieden untergraben?"59)

Der Vorschlag zur Vollständigen Abrüstung, vom sowjetischen Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Litwinow, im Völkerbund eingebracht, käme für dessen Mitglieder „völlig unerwartet" und wurde auf den St. Nimmerleinstag verschoben. Desgleichen seien die „Freundschaftsverträge" der kapitalistischen Staaten - Frankreich mit Jugoslawien, Italien mit Albanien, Polen mit Litauen - und das „Locarno-System" nichts anderes als „ein System der Vorbereitung neuer Kriege und der Gruppierung der Kräfte für künftige militärische Konflikte."60)

Als Beleg für die Kriegsvorbereitungen folgen Zahlenangaben:

„... von 1913 bis 1927 ist die Stärke der Armeen Frankreichs, Englands, Italiens, der Vereinigten Staaten von Nordamerika und Japans von 1.888.000 auf 2.262.000 Mann angewachsen; in der gleichen Periode sind die Militärhaushalte derselben Länder von 2345 Millionen auf 3948 Millionen Goldrubel angewachsen; die Zahl der in diesen fünf Ländern vorhandenen einsatzbereiten Flugzeuge ist von 1923 bis 1927 von 2.655 auf 4.340 angewachsen, die Tonnage der Kreuzer dieser fünf Mächte von 724.000 Tonnen im Jahre 1922 auf 864.000 Tonnen im Jahre 1926; die Lage hinsichtlich des Gaskrieges wird durch die bekannte Erklärung des Chefs des kriegschemischen Dienstes der Vereinigten Staaten von Nordamerika, des Generals Fries, illustriert: ‘Eine 450 Kilogramm schwere, mit Lewisit geladene chemische Fliegerbombe kann zehn Häuserblocks von New York unbewohnbar machen, während 100 Tonnen Lewisit, von 50 Flugzeugen abgeworfen, ganz New York zumindest auf eine Woche unbewohnbar machen können.’"61)

Es sei klar, daß „das Anwachsen der Rüstungen eine gebieterische Folge der Unvermeidlichkeit neuer imperialistischer Kriege zwischen den ‘Mächten’ ist, daß der ‘Geist des Krieges der Hauptgeist des Geistes von Locarno’ ist..."62)

Stalin schloß seine Analyse über die Kriegsvorbereitungen der imperialistischen Staaten mit einem Hinweis auf Lenin ab: „Wir dürfen die Worte Lenins nicht vergessen, daß sehr viel für unseren Aufbau davon abhängt, ob es uns gelingen wird, den Krieg mit der kapitalistischen Welt hinauszuzögern, der unvermeidlich ist, den man aber hinauszögern kann, entweder bis zu dem Moment, da die proletarische Revolution in Europa herangereift ist, oder bis zu dem Moment, da die kolonialen Revolutionen vollständig reif geworden sind, oder endlich bis zu dem Moment, da die Kapitalisten einander wegen der Aufteilung der Kolonien in die Haare geraten.

DeshaIb ist für uns die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen zu den kapitalistischen Ländern eine unerläßliche Aufgabe.

Die Grundlage unserer Beziehungen zu den kapitalistischen Ländern besteht darin, daß wir ein Nebeneinanderbestehen der beiden entgegengesetzten Systeme für möglich halten.63)

Natürlich wußte Stalin, daß eine Möglichkeit eben noch keine Realität ist.

2.1.6. „Imperialistischer Pazifismus"

Auf die These von der Unvermeidlichkeit neuer imperialistischer Kriege ging Stalin noch mehrfach ein, wobei er sich wiederholt mit dem bürgerlichen Pazifismus auseinandersetzte. Neu in seinem Artikel für die Leninskaja Prawda vom 14. Juli 1928 war seine Bestimmung des bürgerlichen Pazifismus als „imperialistischen Pazifismus", der „mit seinem Völkerbund, mit seinen ‘Friedens’predigten, mit dem ‘Verbot’ des Krieges, mit seinem ‘Abrüstungs’geschwätz vortäuscht", daß der Völkerbund ein „Instrument des Friedens" sei. „Der imperialistische Pazifismus ist ein Instrument der Kriegsvorbereitung, er dient zur Bemäntelung dieser Vorbereitung mittels pharisäischer Friedensphrasen. Ohne diesen Pazifismus und ohne sein Instrument, den Völkerbund, ist die Vorbereitung von Kriegen unter den heutigen Verhältnissen unmöglich."64)

Es gäbe Leute, die „so naiv" wären, zu glauben, daß der imperialistische Pazifismus bedeute, daß es keinen Krieg geben werde. Das Gegenteil sei der Fall, da „der imperialistische Pazifismus mit seinem Völkerbund floriert, wird es ganz bestimmt neue imperialistische Kriege und Interventionen geben."65)

„Imperialistischer Pazifismus" gehört nach der Stalinschen Argumentation zur ideologischen Vorbereitung neuer Kriege.Offene, unverhüllte Vorbereitung imperialistischer Aggressionskriege würde - zehn Jahre nach dem Ersten Weltkrieg - auf den Widerstand breiter Teile der Volksmassen, vor allem der Arbeiterklasse, stoßen. Auch Hitler war nach seiner eigenen Aussage „gezwungen" gewesen, „jahrelang vom Frieden" zu reden.

In diesem Zusammenhang beurteilte Stalin die Sozialdemokratie als „Hauptschrittmacher des imperialistischen Pazifismus in der Arbeiterklasse."66)

Diese scharfe Verurteilung der Sozialdemokratie, die These von den „Zwillingsbrüdern" wird immer wieder, auch von kommunistischen Theoretikern, als falsch bezeichnet. Welche Erfahrungen aber lagen bis 1928 vor?

Die Kommunisten der Sowjetunion hatten ihre Erfahrungen mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären während der Oktoberrevolution, des Bürger- und Interventionskrieges gemacht, in denen diese sich als konterrevolutionäre Kraft erwiesen hatten. In Deutschland erwies sich die Sozialdemokratie seit 1914 als Partner der Reaktion: Zustimmung zu den Kriegskrediten, die Untaten der Ebert, Noske, Scheidemann und anderer Führer der Sozialdemokratie in der Novemberrevolution und in der revolutionären Nachkriegskrise. Welcher Unterschied bestand denn zwischen einem Noske und den Freikorpsbanden in der Zeit zwischen 1918 und 1923? In Frankreich, England und Italien erwiesen sich die Führer der sozialistischen Parteien als unverzichtbare Stabilisatoren der kapitalistischen Ordnung, als verläßliche antikommunistische und antisowjetische Kräfte. Der Unterschied zu den offen reaktionären konservativen und faschistischen Parteien bestand vor allem darin, daß sie in kritischen Situationen für die Erhaltung der kapitalistischen Ordnung und als antisowjetische Kraft besser geeignet waren als die konservativen Parteien auf Grund dessen, daß in ihnen die Mehrheit der Mitglieder und ihrer Wähler Arbeiter und kleine Angestellte, Teile des Kleinbürgertums waren. Nach ihren Mitgliedern waren sie „Arbeiterparteien", nach ihren Führungen reaktionäre, konterrevolutionäre Parteien. Die Politik wurde - und wird - eben nicht von der „Basis", - die bekanntlich „ganz anders denkt!" - bestimmt, sondern von den Führern, die über den Apparat und die ideologischen Einrichtungen verfügen. Selbst wenn Arbeiter die „Koalitionspolitik" der rechten Führer und die beschwichtigenden Reden der „linken" Führer durchschauen mochten, änderte dies an der Politik der rechten Führer gar nichts. Tradition, Beharrungsvermögen, auf jeden Fall in der Partei zu bleiben, um von innen vielleicht doch noch etwas ändern zu können, die Bindungen der Gewerkschaften an die Sozialdemokratischen Parteien und, nicht zuletzt, die gezüchteten antikommunistischen Vorurteile und Vorbehalte hinderte die Mehrheit der Arbeiter in diesen Parteien, den revolutionären Bruch mit ihren Führungen zu vollziehen.

Gegen Stalins These von der Sozialdemokratie als „Hauptschrittmacher des imperialistischen Pazifismus", den „Zwillingsbrüdern" kann unter politischem Aspekt kritisch eingewandt werden, daß sich die Mitglieder in diesen Parteien, Arbeiter, angesprochen fühlen konnten, ein Umstand, der von den bürgerlichen rechten Führern in diesen Parteien und den reformistischen Gewerkschaftsführern weidlich für antikommunistische Agitation ausgenutzt wurde.

Politisch besonders bedenklich wurde diese These nach der Machtübergabe an die Hitlerfaschisten in Deutschland am 30. Januar 1933. Auf dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale (25. Juli - 20. August 1935) wurde sie auch zurückgezogen. In der These von den „Zwillingsbrüdern" zeigt sich der Widerspruch zwischen Theorie und Politik. Diese These hatte Stalin gewonnen aus der Analyse der konkreten Klassenkampfverhältnisse der 20er Jahre, vor allem der Revolutionszeit und der revolutionären Nachkriegskrisen, der theoretischen Verallgemeinerung der Erfahrungen mit den rechten, antikommunistischen Führern der Sozialdemokratie und spiegelte den Sachverhalt exakt wider. Politisch war die These von den „Zwillingsbrüdern" zugleich bedenklich. Eine richtige theoretische Aussage kann politisch falsch sein. Solche Einschätzungen sind eben nicht als theoretische Axiome für alle Zeiten und Verhältnisse gültig. Sie sind stets im historisch-konkreten Zeitraum einzuschätzen und zu bewerten. Mit dem Übergang zur Volksfrontpolitik in Frankreich und Spanien, der Errichtung faschistischer Diktaturen spiegelte diese These die veränderten Kampfbedingungen nicht mehr richtig wider.

Für die Kommunistischen Parteien leitete Stalin in diesem Artikel zwei Aufgaben ab: Erstens, „unermüdlicher Kampf gegen den Sozialdemokra-tismus auf allen Gebieten... Entlarvung des bürgerlichen Pazifismus ... mit dem Ziel, die Mehrheit der Arbeiterklasse für den Kommunismus zu gewinnen." Zweitens, Herstellung der Einheitsfront der Arbeiter der fortgeschrittenen Länder mit den werktätigen Massen der Kolonien, um die Kriegsgefahr abzuwenden oder wenn ein Krieg ausbricht, den imperialistischen Krieg in den Bürgerkrieg umzuwandeln, den Faschismus zu zerschlagen, den Kapitalismus zu stürzen, die Sowjetmacht zu errichten, die Kolonien von der Sklaverei zu befreien, mit allen Mitteln die Verteidigung der ersten Sowjetrepublik der Welt zu organisieren."67)

Die Einheitsfrontpolitik - wie auch die Volksfrontpolitik - waren zu dieser Zeit bei weitem noch nicht ausgearbeitet. Die Einheitsfront sollte „von unten", gegen die rechten Führer in der Sozialdemokratie errichtet werden, was nicht zum Erfolg führte. Über die Gestaltung der Beziehungen zwischen einer revolutionären und einer reformistischen Partei lagen zu dieser Zeit noch keine Erfahrungen vor.

In Anlehnung an Lenins These von gerechten und ungerechten Kriegen ging Stalin in seinem Brief an Gorki vom 17. Januar 1930 auf dieses Problem ein. Nach wie vor wird von Pazifisten diese Leninsche Lehre verworfen.

Nach den ersten imperialistischen Kriegen des 21. Jahrhunderts gegen Jugoslawien und den Irak, den Drohungen des US-Imperialismus gegen andere sogenannte „Schurkenstaaten" ist die Argumentation Stalins in diesem Brief noch immer aktuell:

„Nach ernsthafter Erörterung der Frage der Organisierung einer speziellen Zeitschrift ‘über den Krieg’ sind wir zu dem Schluß gekommen, daß jetzt kein Grund zur Herausgabe einer solchen Zeitschrift vorliegt. Wir halten es für zweckmäßiger, die Fragen des Krieges (ich spreche vom imperialistischen Krieg) in den bestehenden politischen Zeitschriften zu behandeln. Um so mehr, als die Fragen des Krieges nicht von den Fragen der Politik, deren Ausdruck der Krieg ist, getrennt werden dürfen.

Was die Erzählungen über den Krieg betrifft, so sind sie nur nach sorgfältiger Auswahl zu veröffentlichen. Auf dem Büchermarkt gibt es eine Menge belletristischer Erzählungen, die die ‘Schrecken’ des Krieges malen und Abscheu gegen jeglichen Krieg (nicht nur gegen den imperialistischen, sondern auch gegen jeden anderen Krieg) einflößen. Das sind bürgerlich-pazifistische Erzählungen, die nicht viel wert sind.

Wir brauchen Erzählungen, die, ausgehend von den Schrecken des imperialistischen Krieges, die Leser an die Notwendigkeit der Überwindung der imperialistischen Regierungen, die diese Kriege organisieren, heranführen. Außerdem sind wir doch nicht gegen jeglichen Krieg. Wir sind gegen den imperialistischen Krieg als konterrevolutionären Krieg. Aber wir sind für den Befreiungskrieg, den antiimperialistischen, revolutionären Krieg, ungeachtet der Tatsache, daß ein solcher Krieg bekanntlich nicht frei ist von den ‘Schrecken des Blutvergießens’, sondern diese sogar reichlich aufweist."68)

2.1.7. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt

In den 30er Jahren, nach der Machtübergabe der reaktionärsten Vertreter des deutschen Industrie- und Bankkapitals an Hitler spitzte sich die Kriegsgefahr immer mehr zu. In der Beurteilung der Politik der von Stalin geführten Sowjetregierung sind diesbezügliche Ausführungen Churchills aufschlußreich. Churchill hat aus seinen Haß gegen den Kommunismus und die Sowjetunion nie einen Hehl gemacht und ist keinerlei Sympathien für den Kommunismus verdächtig. Vom Kommunismus verstand Churchill ohnehin nichts, wie die amerikanische Journalistin Virginia Cowles bemerkte. Von den Werken von Marx, Engels und Lenin habe er auch nicht eine Zeile gelesen. Dennoch urteilte Churchill: „Die kommunistische Theorie" sei ein „Rückmarsch in die finstersten Zeitalter."69)

Lenin äußerte sich über Churchill in seiner Rede auf der Konferenz der Vorsitzenden der Exekutivkomitees am 15. Oktober 1920: „Der englische Kriegsminister Churchill wendet schon einige Jahre hindurch alle Mittel an, gesetzliche und noch mehr ungesetzliche - vom Standpunkt der englischen Gesetze -, um alle Weißgardisten gegen Rußland zu unterstützen und sie mit Waffen zu versorgen. Das ist der größte Hasser Sowjetrußlands..."70)

Aber auch ein starkes bürgerliches Rußland war ganz und gar nicht nach seinem Geschmack. Lenin meinte, daß die englische Regierung im Herbst 1920 daran interessiert war, „die neuen Kleinstaaten - Finnland, Estland, Lettland und Litauen - unter ihren Einfluß" zu bringen und ihr somit „an der Wiederherstellung eines zaristischen oder weißgardistischen oder auch nur bürgerlichen Rußlands gar nichts" lag. Im Gegenteil, ein solches Rußland würde ihr sogar Nachteile bringen.71)

Dies gilt unter veränderten Bedingungen auch noch im 21. Jahrhundert. Die gegenwärtigen Regierungen der USA und Großbritanniens sowie einiger NATO-Staaten, vor allem Polens, sind an einem starken Rußland ganz und gar nicht interessiert. Erste ernste Widersprüche zwischen dem gegenwärtigen imperialistischen Rußland und den USA wurden Anfang des 21. Jahrhunderts deutlich, wie NATO-Ausdehnung nach Osten, im Irak-Krieg, in den früheren mittelasiatischen Sowjetrepubliken. Diese Widersprüche werden sich gesetzmäßig weiter zuspitzen, trotz gelegentlicher „Freund-schafts"bekundungen, „Handdrücken" zwischen Putin und Bush.

Churchill hatte in den 30er Jahren bereits erkannt, daß vom faschistischen Deutschland nicht nur Gefahren für die Sowjetunion, sondern auch für Großbritannien ausgingen. Darin unterschied er sich von Chamberlain, dem damaligen Ministerpräsidenten Großbritanniens. Churchill und Chamberlain wünschten beide, die Sowjetunion und Deutschland gegeneinanderzuhetzen, daß in einem solchen Krieg die Sowjetunion zerstört und Deutschland geschwächt werde, damit Großbritannien seine Weltmachtstellung behaupten könne. Der Unterschied zwischen den beiden bestand in den Methoden. Chamberlain suchte durch die „appeasement"-Politik (Beschwichtigungspolitik, UH) Hitler durch Zugeständnisse in Richtung Osten, vor allem gegen die Sowjetunion zu lenken. In seinen Memoiren schrieb der ehemalige sowjetische Botschafter in Großbritannien, I.M. Maiski, über die britische Politik:

„In der Tat, aus der vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR 1948 veröffentlichten Niederschrift des Gesprächs zwischen Hitler und Halifax vom 19. November 1937 geht ganz klar hervor, das Halifax im Auftrage der britischen Regierung Hitler eine Art Allianz auf der Grundlage eines ‘Viererpakts’ anbot und ihm ‘freie Hand’ in Mittel- und Osteuropa zusicherte. Unter anderem erklärte Halifax, daß in Europa keine Änderungsmöglichkeit des bestehenden Zustandes ausgeschlossen sein sollte, und präzisierte, ‘zu diesen Fragen gehöre Danzig und Österreich und die Tschechoslowakei’".71a)

Churchill hielt diese Politik für gefährlich. Die Gefahren, die vom faschistischen Deutschland für Großbritannien ausgingen waren seiner Meinung nach größer, als die, die von der Sowjetunion ausgingen. (Daß von der UdSSR überhaupt keine Gefahren ausgingen, sei hier nur am Rande vermerkt. Daß die UdSSR durch ihre Existenz Einfluß auf die britische Arbeiterklasse ausübte, ist eine andere Frage. Diesen Einfluß hat Churchill offenbar nicht überbewertet.)

Den Ausschlag bei Churchill für eine konsequente Politik gegen das faschistische Deutschland gab das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 (Hitler, Mussolini, Daladier, Chamberlain) über die Zerstückelung der CSR.

In seinen Erinnerungen zitierte Churchill aus einer Erklärung des sowjetischen Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Litwinow, die dieser am 21. September 1938 vor dem Völkerbund abgegeben hatte: „Wir beabsichtigen, unsere vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen und der Tschechoslowakei gemeinsam mit Frankreich auf den uns offenstehenden Wegen Hilfe zu leisten. Unser Kriegsministerium ist zur sofortigen Teilnahme an einer Besprechung zwischen Vertretern der französischen und tschechoslowakischen Kriegsministerien bereit, um die für den Augenblick geeigneten Maßnahmen zu erörtern..."72)

Litwinow hatte bereits am 2. September 1938 dem französischen Geschäftsträger in Moskau, Payart (Botschafter Naggiar war damals abwesend), erklärt: „daß die Regierung der UdSSR im Falle eines deutschen Überfalls auf die Tschechoslowakei ihre Verpflichtungen aus dem sowjetisch-tschechoslowakischen Beistandspakt von 1935 erfüllen und der Tschechoslowakei bewaffnete Hilfe leisten würde, und bat ihn, dies der französischen Regierung mitzuteilen. Da jedoch laut den Bestimmungen dieses Paktes die Beistandsverpflichtung der Sowjetunion nur dann in Kraft trat, wenn gleichzeitig auch das ebenfalls durch einen Beistandspakt mit der Tschechoslowakei verbündete Frankreich Deutschland militärisch entgegentreten würde, wollte die Regierung der UdSSR wissen, was die französische Regierung in der augenblicklichen Situation zu unternehmen gedenke. Die Regierung der UdSSR schlug ihrerseits der französischen Regierung vor, unverzüglich eine Beratung von Vertretern des sowjetischen, des französischen und des tschechoslowakischen Generalstabes anzuberaumen, um die notwendigen Maßnahmen auszuarbeiten."72a)

Die Sowjetregierung hielt sich an den am 2. Mai 1935 mit der französischen Regierung abgeschlossenen Pakt, die CSR im Falle einer militärischen Aggression vom faschistischen Deutschland militärische Hilfe zu leisten. Etwa um dieselbe Zeit, so Maiski, „ließ Stalin, wie Klement Gottwald später erklärte, durch ihn den Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik, Benes, wissen, daß die Sowjetunion bereit sei, der Tschechoslowakei bewaffnete Hilfe zu erweisen, selbst wenn Frankreich dies ablehnen würde."72b)

Churchill kritisierte den französischen Außenminister Laval, der „niemals ernstlich beabsichtigt" habe, „Frankreich auf eine der bestimmten Verpflichtungen festzulegen, welche die Sowjets zu fordern pflegen."73) Damit hatte der „französisch-sowjetrussische Pakt, der keine Verpflichtungen enthielt, die im Falle einer deutschen Aggression einen der Vertragspartner gebunden hätten", für das „europäische Sicherheitssystem" ... „nur beschränkte Vorteile. Ein wirkliches Bündnisverhältnis mit Rußland kam dadurch nicht zustande."

Laval hatte in Krakau an der Beisetzung Pilsudskis teilgenommen. „Dort traf er sich mit Göring und führte herzliche Gespräche mit ihm. Seine mißtrauischen und unfreundlichen Äußerungen über die Sowjets wurden durch die Deutschen getreulich nach Moskau weitergeleitet."74)

Die Sowjetregierung hatte auf Anfrage der tschechoslowakischen Regierung, „ob die Sowjetunion gemäß dem russisch-tschechischen Pakt bereit sei", der Tschechoslowakei sofort und wirksame Hilfe zu leisten, falls Frankreich in Erfüllung seiner Verpflichtungen dieselbe Hilfe leiste... „mit einer klaren Zusage" geantwortet.75)

Diese eindeutige Erklärung sei von Chamberlain völlig ignoriert worden. Churchill kritisierte diese Verhaltensweise des britischen Premierministers:

„Das Angebot Sowjetrußlands wurde einfach übergangen. Man warf die Macht der Sowjets nicht in die Waagschale gegen Hitler und behandelte die Russen mit einer Gleichgültigkeit - um nicht zu sagen Verachtung -, die in Stalins Einstellung ihre Spuren zurückließ. Die Ereignisse nahmen ihren Lauf, als ob Sowjetrußland nicht existierte. Dafür mußten wir später teuer bezahlen."76)

Maiski bestätigte die Aussagen Churchills in seinen Memoiren:

„Denn das, worauf es damals wirklich ankam, nämlich Englands Haltung in der internationalen Arena, rief bei uns, wie es auch gar nicht anders sein konnte, ernste Besorgnis und Empörung hervor. In München war de facto der berüchtigte, gegen die UdSSR gerichtete Viererpakt in seiner niederträchtigsten und abscheulichsten Variante zustande gekommen, ein Viererpakt, in dem die faschistischen Diktatoren unumstritten den Ton angaben, die Vertreter Englands und Frankreichs hingegen ihnen auf ihr Geheiß folgten. Wie charakteristisch war doch in jenen kritischen Septembertagen das Verhalten der britischen Regierung! Sie unternahm nicht ein einziges Mal den Versuch, sich mit der Regierung der UdSSR über die tschechoslowakische Frage und über den europäischen Frieden auch nur zu beraten. Alle Besprechungen Chamberlains mit Mussolini, seine Reisen zu Treffs mit den faschistischen Diktatoren, seine Abmachungen mit ihnen einschließlich des Münchner Abkommens - all das geschah hinter dem Rücken der Sowjetregierung, die über die Vorgänge nicht einmal informiert wurde. Das einzige Mal, daß Halifax aus Anlaß der Septemberereignisse mit mir Kontakt aufnahm, war das Gespräch, das am 29. September stattfand, also zu einem Zeitpunkt, da sich Chamberlain in München aufhielt und das Schicksal der Tschechoslowakei bereits besiegelt war. Doch worum ging es bei diesem Gespräch? Um Englands Haltung in der tschechoslowakischen Frage? Um die Perspektiven und Richtlinien der Abkommen mit Deutschland und Italien? Nichts dergleichen! In dem Gespräch vom 29. September wollte mir Halifax auseinandersetzen, warum sich England und Frankreich zu einer Konferenz mit den faschistischen Diktatoren ohne die UdSSR bereit erklärt hatten, aber sein Rechtfertigungsversuch war selbst die schärfste Anklage gegen die Politik Chamberlains. Hier der Wortlaut dessen, was Halifax sagte, zitiert nach seinen eigenen Aufzeichnungen:

‘Wir müssen alle den Tatsachen Rechnung tragen, und eine dieser Tatsachen ist, daß die Häupter der deutschen und der italienischen Regierung in der gegenwärtigen Situation, wie ihm (das heißt mir - I.M.) sehr wohl bekannt ist, an einer Konferenz, auf der auch die Sowjetregierung vertreten wäre, nicht teilnehmen möchten. Es erscheint uns außerordentlich wichtig - und ich glaube, das gilt auch für ihn -, daß die strittigen Fragen so oder so auf dem Verhandlungswege beigelegt werden, um einen Krieg zu vermeiden. Und gerade diese Erwägung veranlaßte den Premierminister, gestern an Hitler den Appell zur Anberaumung einer Konferenz ergehen zu lassen, zu der auch andere eingeladen werden können, falls Hitler dies wünscht.’"76a)

Seit dem Münchener Abkommen vom Herbst 1938 war Churchill nach seinen eigenen Angaben, bemüht, die Sowjetunion in eine Koalition gegen das faschistische Deutschland einzubeziehen - was jedoch an seinen antikommunistischen und antisowjetischen Vorbehalte absolut nichts änderte. Churchill war aber Realist, ein militärisches Zweckbündnis mit der Sowjetunion erschien ihm für die Aufrechterhaltung der britischen Weltmachtstellung, die er von Deutschland bedroht sah, notwendig. Er hatte offenbar keine Bedenken, die Rote Armee für Interessen des britischen Imperialismus bluten zu lassen.

Churchill erklärte unumwunden, daß die britische und französische Regierung die Verantwortung trugen, daß es 1939 nicht zu einem Militärbündnis zwischen Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion gekommen ist. Mit verantwortlich waren auch die Regierungen Polens und Rumäniens, die keine Durchmarscherlaubnis im Falle einer deutschen Aggression für die sowjetischen Truppen gaben. Die Sowjetregierung habe unmißverständlich bekanntgegeben, daß sie einem gegenseitigen Beistandspakt nur beiträten würde, wenn Finnland und die baltischen Staaten in eine allgemeine Garantie mit einbezogen werden würden, deren eingefleischten sowjetfeindlichen Regierungen dies aber verweigerten. Im Gegenteil: Am 7. Juni unterzeichneten die Regierungen Estlands und Lettlands Nichtangriffspakte mit Deutschland.77)

Am 12. Juni betraute die Chamberlain-Regierung einen „tüchtigen Beamten", William Strang, der „außerhalb des Foreign Office kaum bekannt war", mit der wichtigen Aufgabe, in Moskau einen Versuch zur Verständigung mit der Sowjetunion zu betreiben. „Die Entsendung einer so untergeordneten Figur", schrieb Churchill, „wurde geradezu als Beleidigung empfunden."78) Auf Initiative der Sowjetregierung sollten die Besprechungen auf militärischer Grundlage mit französischen und britischen Vertretern fortgesetzt werden.

„Die britische Regierung schickte darauf am 10. August Admiral Drax mit einer Mission nach Moskau. Die Offiziere hatten keine schriftliche Ermächtigung zu Verhandlungen. An der Spitze der französischen Mission stand General Doumenc."79)

Soweit Churchill. Das Ergebnis ist bekannt. Am 23. August wurde der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt unterzeichnet.

Churchill erklärte rückblickend, daß ein Abkommen mit der Sowjetunion möglich gewesen war. Daß es nicht zustande gekommen war, stelle „den Höhepunkt der diplomatischen Mißerfolge" der britischen und französischen Außenpolitik dar. „Vom Standpunkt der Sowjetregierung aus, muß gesagt werden, daß es für sie lebenswichtig war, das Aufmarschgebiet der deutschen Armeen so weit wie möglich im Westen zu halten, damit die Russen mehr Zeit gewinnen konnten, ihre Streitkräfte aus allen Teilen des ungeheuren Reiches zusammenzuziehen. Sie erinnerten sich noch lebhaft an das Verhängnis, das 1914 über ihre Armeen gekommen war, als sie eilig zum Angriff auf die Deutschen vorgestoßen waren, obschon sie erst eine Teilmobilmachung vollzogen hatten. Jetzt aber lagen ihre Grenzen viel weiter östlich als im vorhergehenden Krieg. Sie mußten daher die baltischen Staaten und einen großen Teil von Polen durch Gewalt oder Betrug besetzen, bevor sie selbst angegriffen wurden. Wenn ihre Politik kaltblütig war, so war sie damals auch im höchsten Maße realistisch."80)

Der ehemalige Botschafter der USA in der Sowjetunion, Joseph E. Davies bestätigte aus seiner Sicht die Ausführungen Churchills. Die Sowjetregierung habe „fleißig und tatkräftig versucht, eine kraftvolle gemeinsame Front gegen die Angreifer zu bilden und aufrichtig die Lehre von der ‘Unteilbarkeit des Friedens’ vertreten.

Litwinows kluger Kampf für den Frieden und demokratische Ideen im Völkerbund und die energische Haltung der Sowjetregierung in ihrer Bereitschaft, für die Tschechoslowakei zu kämpfen, waren Anzeichen von wahrhafter Aufrichtigkeit ihrer Absichten und ließen einen merklichen Grad hoher Gesinnung der Sowjetregierung erkennen." Davies schildert dann die Politik der englischen und französischen Regierung um das Münchener Abkommen, den Russen gegenüber „eine allem Anschein nach beabsichtigte Politik der ‘Nadelstiche’ und eine Überlegenheitshaltung und Herablassung..."

„Aus der Politik der ‘Beschwichtigung’ erwuchs auf Seiten der Sowjetregierung noch ein tieferes Mißtrauen gegen die Fähigkeit, die Absichten, ja sogar gegen das ‘gegebene Wort’ der Chamberlain- oder der Daladier-Regierung.

Die Vorschläge der Sowjets für ein ‘realistisches Bündnis’, um Hitler Einhalt zu gebieten, wurden von der Chamberlain-Regierung aus Rücksicht auf die Gefühle der Polen und der baltischen Staaten angelehnt..."

„Diese Ereignisse waren geeignet, den Argwohn der realistisch eingestellten Sowjetführer, auch Stalins, zu nähren und ihre Unzufriedenheit zu erregen. Offenbar wurde ihnen verleidet, sich den Angreifern durch Teilnahme an den europäischen Angelegenheiten entgegenzustellen; dies hat charakteristischer Weise zu einem Umschwung ins Gegenteil geführt, indem sie beschlossen, nunmehr ihre eigene Stellung zu sichern, und zu diesem Zweck mit Deutschland einen Nichtangriffspakt abzuschließen, der Rußland, wenigstens eine Zeitlang, den Frieden sichern soll, unabhängig von den Kriegsmöglichkeiten in Europa."80a)

Bleiben die vieldiskutierten sogenannten Zusatzabkommen zum Nichtangriffsvertrag, durch den die Demarkationslinien zwischen den deutschen Armeen und der Roten Armee abgesteckt waren. Sie waren nicht nur notwendige Verteidigungsmaßnahmen von Seiten der UdSSR. Der bekannte marxistische Historiker Kurt Gossweiler beurteilte sie unter zwei Aspekten:

„Vom Standpunkt nationaler und historischer Gerechtigkeit aus bedeutete die „Abgrenzung der Interessensphären" die Wiedergutmachung der 1920 begangenen gewaltsamen Annexion fremden ukrainischen und belorussischen Gebietes durch Pilsudski-Polen, denn die endgültige Abgrenzungslinie von 1939 verlief ziemlich exakt auf der Linie, die der damalige britische Außenminister Curzon bei den Friedensverhandlungen von 1919 unter Berücksichtigung ethnischer Gesichtspunkte als östliche Grenze des wiedererrichteten polnischen Staates vorgeschlagen hatte."81)

„Vor allem aber - und für mich war das bereits 1939 der entscheidende Gesichtspunkt - war dieser Schritt der Sowjetunion vom Klassenstandpunkt aus nicht nur berechtigt, sondern kühn und revolutionär. Er durchkreuzte nicht nur - wie sich bald zeigte - imperialistische Intrigen, sondern drängte mit dem Einflußgebiet des deutschen Faschismus auch zugleich das des Imperialismus zurück und dehnte das des Sozialismus aus, sprengte damit den ‘cordon sanitaire’, den der Imperialismus vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer um den Sowjetstaat gelegt hatte, und holte aus dem imperialistischen Herrschaftsbereich alle Gebiete zurück, die nach dem ersten Weltkrieg unter Ausnutzung der Schwäche der jungen Sowjetmacht dieser gewaltsam entrissen worden waren."82)

Mit dem Abschluß des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes war die Politik der Chamberlain-Regierung, Deutschland und die Sowjetunion sich in einem Krieg gegenseitig zu zerstören, wenigstens empfindlich schwächen zu lassen, sie gegeneinander auszuspielen, gescheitert. Die britischen und französischen Imperialisten standen nun dem deutschen Imperialismus allein gegenüber, den sie durch ihren bornierten Antisowjetismus auch noch gestärkt hatten. Die scharf geladene Kanone ging nun, wie man im Volksmund sagt, „nach hinten los". Daher das Geschrei über den „Teufelspakt" der „zwei Diktatoren" und der grotesken Geschichtslüge, daß Stalin mit der Unterzeichnung des Nichtangriffsvertrages den Zweiten Weltkrieg erst ermöglicht habe.

Die Sowjetregierung hatte mit diesem Pakt wertvolle Zeit gewonnen. Stalin hat sich von Hitler keineswegs täuschen lassen, wie eine andere unsinnige Geschichtslüge behauptet. Stalin war sich darüber im Klaren, daß die Sowjetunion lediglich Zeit gewonnen, die Atempause verlängert habe.

Die strategisch wichtige Frage war die nach der Bestimmung des wahrscheinlichen Zeitpunktes des erwarteten Überfalls der deutschen Wehrmacht, der sich bei Unterzeichnung des Vertrages auch nicht mit Sicherheit bestimmen ließ.

2.1.8. Imperialistische Kriege in den 30er Jahren

Nach dem Wahlsieg der Volksfrontparteien in Spanien an 16. Februar 1936 putschten die Franco-Faschisten und begannen von Marokko aus am 10. Juli den Bürgerkrieg. Trotz der militärischen Intervention Italiens und Deutschlands in den spanischen Bürgerkrieg auf Seiten Francos beschlossen 27 europäische Regierungen eine Politik der „Nichteinmischung!". Die Regierungen Großbritanniens und Frankreich unterbanden den Verkauf von Waffen an die demokratisch gewählte republikanische Regierung. Diese Politik der britischen Regierung fand die Zustimmung Churchills. Die Hilfe der internationalen Brigaden, darunter das Thälmann-Bataillon sowie Freiwillige der Roten Armee, konnte trotz ihres opferreichen Einsatzes an den Fronten den Sieg der Faschisten im Januar 1938 nicht verhindern. Die britische und französische Regierung erkannten das Franco-Regime am 27. Februar diplomatisch an; am l. April erfolgte die Anerkennung durch die US-Regierung.

Am 3. Oktober 1935 eröffnete das faschistische Italien seinen Aggressionskrieg gegen Äthiopien. Weder der Völkerbund noch die britische und französische Regierung unternahmen ernsthafte Schritte, um die Aggression zu verhindern. Im April 1939 okkupierte Italien Albanien.

Die japanischen Imperialisten hatten sich bereits am Interventionskrieg gegen Sowjetrußland beteiligt, um sich die fernöstlichen Gebiete der RSFSR anzueignen. Erst 1922 gelang es der Volksrevolutionären Armee der Fernöstlichen Republik die Japaner zum Abzug zu zwingen. Ende der zwanziger Jahre unternahm Japan erneut aggressive Raubzüge, zunächst gegen China. 1931 drangen japanische Truppen in die Mandschurei ein und bildeten dort den von Japan abhängigen Marionettenstaat Mandschuko. 1933 erfolgte der Austritt Japans aus dem Völkerbund. 1936 unterschrieb die japanische Regierung den „Antikominternpakt."83)

Mit dem militärischen Einfall in China eröffnete Japan den chinesisch-japanischen Krieg 1937, der bis zur bedingungslosen Kapitulation der Kwantung-Armee vor der Roten Armee am 10. September 1945 dauerte. Mit den Kriegshandlungen Japans gegen China gerieten die japanischen Imperialisten in ernste Interessengegensätze zu den US- und britischen Imperialisten, die jedoch keine Aktionen gegen den Aggressor einleiteten, da sie noch immer hofften, Japan ausschließlich gegen die Sowjetunion lenken zu können. Diese Rechnung schien zunächst aufzugehen.

Im Juli 1938 stießen japanische Truppen am Chassan-See, in der Nähe von Wladiwostok auf sowjetisches Territorium vor. Im August wurden sie von sowjetischen Truppen wieder über die Grenze zurückgeworfen.

Am 13. Mai 1939 versuchten die japanischen Imperialisten erneut eine Aggression, diesmal über Umwege, indem sie im Bereich des Chalchin-Gol in die Mongolische Volksrepublik einfielen.

Entsprechend dem Beistandsvertrag der UdSSR mit der Mongolischen Volksrepublik (MVR) vom 12. März 1936, in dem sich die Regierung der UdSSR verpflichtet hatte, sie gegen jede ausländische Aggression zu verteidigen, leistete die Rote Armee vertragstreu militärischen Beistand.

Der Einfall der 6. japanischen Armee in die MVR war kein einfacher Grenzkonflikt. Es handelte sich um einen Krieg. Es war die erste militärische Aggression einer imperialistischen Macht gegen die UdSSR nach dem Interventionskrieg. Die Atempause der Sowjetunion ging zu Ende. Darin lag die politische und militärische Bedeutung des Krieges am Chalchin-Gol. Die Auswertung dieses Krieges durch den Marschall der Sowjetunion G.K. Shukow, der die Truppen der Roten Armee am Chalchin-Gol befehligte, in einem - dem ersten - Gespräch mit Stalin, sei darum dokumentiert:

Stalin begrüßte mich, und während er sich seine Pfeife anzündete, fragte er sofort: „Wie beurteilen Sie die japanische Armee?"

„Der japanische Soldat, der uns am Chalchin-Gol gegenüberstand, ist gut ausgebildet, besonders für den Nahkampf", antwortete ich. „Er ist diszipliniert, führt die Befehle exakt aus und ist hartnäckig im Kampf, besonders in der Verteidigung. Der untere Kommandeurbestand ist sehr gut ausgebildet und kämpft fanatisch. In der Regel lassen sich die unteren Kommandeure nicht gefangennehmen und schrecken nicht davor zurück, Harakiri zu begehen. Das Offizierskorps, insbesondere die Stabsoffiziere und Generale, ist seinen Aufgaben nur ungenügend gewachsen. Es entwickelt wenig Initiative und neigt dazu, schablonenhaft vorzugehen.

Was die Bewaffnung der japanischen Armee betrifft, so halte ich sie für rückständig. Die japanischen Panzer, die unseren MS-1 entsprechen, sind ausgesprochen veraltet, schlecht bewaffnet und haben einen geringen Fahrbereich. Andererseits muß ich sagen, daß die japanischen Streitkräfte zu Beginn des Feldzuges den unsrigen überlegen waren. Ihre Maschinen waren besser als unsere, solange wir noch nicht die verbesserte ‘Tschaika’ und I-16 erhalten hatten.

Als aber die Fliegergruppe von Helden der Sowjetunion unter Führung Smuschkewitschs bei uns eintraf, wendete sich das Blatt, und unsere Luftüberlegenheit wurde offenkundig.

Ich möchte bemerken, daß wir es mit ausgesuchten, den sogenannten kaiserlichen Truppen der japanischen Armee zu tun hatten."

Stalin hörte sich meine Worte sehr aufmerksam an und fragte dann: „Wie kämpften unsere Truppen?"

„Unsere Kadertruppen kämpften gut. Besonders gut kämpfte die sechsunddreißigste motorisierte Division unter Petrow und die siebenundfünfzigste Schützendivision Galanins, die aus Transbaikalien eingetroffen war. Die zweiundachtzigste Schützendivision, die aus dem Ural eintraf, kämpfte anfangs schlecht. Ihre Soldaten und Kommandeure waren schwach ausgebildet. Diese Division war erst kurz vor ihrem Abtransport in die Mongolei formiert und durch Reservisten aufgefüllt worden.

Sehr gut kämpften die Panzerbrigaden, besonders die elfte unter Führung des Brigadekommandeurs und Helden der Sowjetunion Jakowlew, doch geraten die Panzer BT5 und BT7 allzu leicht in Brand. Wären die zwei Panzer- und die drei Panzerwagenbrigaden nicht zur Verfügung gewesen, hätten wir zweifelsohne die sechste japanische Armee nicht so schnell einschließen und zerschlagen können. Ich bin der Ansicht, daß wir die Panzer und die mechanisierten Truppen als Bestandteil unserer Streitkräfte stark vergrößern müssen.

Unsere Artillerie war der japanischen in jeder Hinsicht, besonders im Schießen, überlegen. Insgesamt stehen unsere Truppen weit über den japanischen.

Die mongolischen Truppen, denen die Rote Armee Erfahrungen vermittelt und Hilfe geleistet hatte, stählten sich und kämpften gut, besonders ihre Panzerwagenabteilung auf dem Berg Bajan-Tsagan. Zu bemerken ist, daß die mongolische Kavallerie bei Luftangriffen und Artilleriefeuer nicht die richtige Einstellung fand und dadurch schwere Verluste erlitt."

„Wie halfen Ihnen Kulik, Pawlow und Woronow?" fragte Stalin weiter.

„Woronow leistete gute Hilfe beim Planen des Artilleriefeuers und bei der Organisation des Munitionsnachschubs. Was Kulik betrifft, so kann ich keinerlei nützliche Tätigkeit bei ihm feststellen. Pawlow half unseren Panzersoldaten durch Vermittlung seiner spanischen Erfahrungen."

Ich beobachtete Stalin aufmerksam, und mir schien, daß er mit Interesse zuhörte. Ich fuhr fort: „Für alle unsere Truppen, Kommandeure der Verbände und Truppenteile sowie für mich persönlich waren die Schlachten gegen die Japaner am Chalchin-Gol eine große Schule der Kampferfahrungen. Ich denke, auch die japanische Seite wird jetzt entsprechende Konsequenzen über die Stärke und Fähigkeit der Roten Armee ziehen."

„Sagen Sie, welchen Schwierigkeiten begegneten unsere Truppen am Chalchin-Gol?" schaltete sich Kalinin ins Gespräch ein.

„Die Hauptschwierigkeiten", sagte ich, „hingen mit Problemen der materiell-technischen Versorgung zusammen. Wir mußten alles, was die Truppen für den Kampf und den Lebensunterhalt brauchten, über sechshundertfünfzig bis siebenhundert Kilometer heranschaffen. Die nächsten Versorgungsstationen befanden sich Im Bereich des Transbaikal-Militärbezirks. Selbst das Holz für die Feldküchen mußte über sechshundert Kilometer herangeschafft werden. Die Umlaufstrecke der Wagen betrug eintausenddreihundert bis eintausendvierhundert Kilometer und daher der riesige Verbrauch an Benzin, das ebenfalls aus der Sowjetunion angeliefert werden mußte.

Bei der Meisterung dieser Schwierigkeiten halfen uns weitgehend der Kriegsrat des Transbaikal-Militärbezirks und Generaloberst Stern mit seinem Apparat. Große Unannehmlichkeiten bereiteten unseren Truppen die Mücken, die am Chalchin-Gol sehr zahlreich sind. Abends fraßen sie uns buchstäblich auf. Die Japaner schützten sich mit speziellen Masken. Wir hatten anfangs keine und stellten sie erst viel später her."

„Welches Hauptziel verfolgte Ihrer Meinung nach die japanische Regierung mit der Invasion?" fragte Kalinin.

„Das nächste Ziel war die Besetzung des Territorium der MVR jenseits des Chalchin-Gol und danach der Bau einer befestigten Stellungslinie am Chalchin-Gol, um die geplante zweite strategische Eisenbahnstrecke, die westlich der Ostchina-Bahn zu unserer transbaikalischen Grenze führen soll, zu sichern."

„Jetzt haben Sie Kampferfahrungen", sagte Stalin. „Übernehmen Sie den Kiewer Militärbezirk und werten Sie Ihre Erfahrungen bei der Ausbildung der Truppen aus."

Während ich mich in der MVR befand, hatte ich keine Möglichkeit, den Ablauf der Kampfhandlungen zwischen dem faschistischen Deutschland und dem britisch-französischen Block gründlich zu verfolgen. Ich benutzte die Gelegenheit, um zu fragen: „Wie ist der äußerst passive Charakter des Krieges im Westen zu verstehen, und wie werden sich die Kriegsereignisse vermutlich entwickeln?"

Stalin verzog den Mund und sagte: „Die französische Regierung Daladier und die britische Regierung Chamberlain wollen sich in dem Krieg gegen Hitler nicht ernsthaft engagieren. Sie hoffen immer noch, Hitler zu einem Krieg gegen die Sowjetunion aufzuhetzen. Als sie neunzehnhundertneununddreißig darauf verzichteten, mit uns einen Antihitlerblock zu bilden, wollten sie Hitler in seiner Aggression gegen die Sowjetunion freie Hand lassen. Aber daraus wird nichts. Sie werden ihre kurzsichtige Politik selbst bezahlen müssen."

Nach meiner Rückkehr ins Hotel ‘Moskwa’ konnte ich unter dem Eindruck des Gesprächs mit den Mitgliedern des Politbüros lange nicht einschlafen.

Stalins Äußeres, seine leise Stimme, seine konkreten und wohldurchdachten Urteile und sein Wissen in militärischen Fragen sowie die Aufmerksamkeit, mit der er sich meinen Bericht anhörte, hatten mich stark beeindruckt.84)

Die in Finnland herrschenden sowjetfeindlichen Kräfte um General Freiherr von Mannerheim hatten das Land zu einem Aufmarschgebiet des britisch-französichen Blocks und des deutschen Imperialismus gegen die UdSSR ausgebaut. In einem Gespräch im Juni 1939 mit General K.A. Merezkow, später Marschall der Sowjetunion, äußerte Stalin ernste Besorgnisse über die Lage an der finnischen Grenze. Die Lage sei „alarmierend". In dem zu erwartenden Kriege könne Finnland von beiden bürgerlichen Hauptgruppierungen, der englisch-französischen und der deutschen, Ausgangspunkt für feindliche Handlungen gegen die Sowjetunion sein. Leningrad liege im Bereich eines feindlichen Artilleriebeschusses.

Auf finnischer Seite kam es zum Bau von Befestigungen und strategischen Straßen. Im Sommer 1939 mobilisierte Finnland seine Streitkräfte, die von englisch-französischen und deutschen Offizieren „beraten" wurden, während der Zweite Weltkrieg zwischen diesen Mächten bereits begonnen hatte. Die Sicherung Leningrads war ein Gebot nationaler Sicherheit der UdSSR. Die Sowjetregierung hatte im Oktober 1939 der finnischen Regierung den Abschluß eines gegenseitigen Beistandspaktes und einen Gebietsaustausch vorgeschlagen, um die sowjetisch-finnische Grenze vor Leningrad weiter nach Norden, auf der karelischen Landenge bis in den Raum Wyborg zu verlegen. Finnland sollte dafür ein etwa sieben mal größeres Gebiet nordwestlich des Onega-Sees erhalten. Die finnische Regierung lehnte beide Vorschläge ab. Merezkow erinnert sich: „Am 26. November erhielt ich durch Sondermeldung Nachricht, daß die Finnen in der Nähe der Ortschaft Mainila Artilleriefeuer gegen unsere Grenzer eröffnet hätten. Vier Genossen seien gefallen, neun weitere verwundet. Ich befahl, die Grenze in ihrer gesamten Ausdehnung durch Kräfte des Militärbezirks unter Kontrolle zu nehmen, und meldete Moskau sofort den Vorfall. Von hier erging die Anweisung, sich auf die Führung eines Gegenschlages vorzubereiten. Zwar gab man uns für die Vorbereitung eine Woche Zeit, doch blieben praktisch nur vier Tage, weil finnische Abteilungen sich vielerorts anschickten, die Grenze zu überschreiten und Gruppen von Diversanten in das sowjetische Hinterland einschleusten. Nach einer entsprechenden Regierungserklärung der UdSSR schritten am 30. November um 08.30 Uhr reguläre Truppenteile der Roten Armee zur Abwehr der sowjetfeindlichen Handlungen.

Die Truppen erhielten Befehl, den Gegner von Leningrad zurückzuwerfen, die Grenze in Karelien und im Raum Murmansk zu sichern und die Marionette der imperialistischen Mächte zur Aufgabe weiterer militärischer Provokationen gegenüber der UdSSR zu zwingen. Hauptaufgabe war dabei die Beseitigung des Aufmarschraumes auf der Karelischen Landenge."84a)

2.1.9. Die Friedenspolitik der UdSSR

Im Rechenschaftsbericht an den XVII. Parteitag der KPdSU (B) (26. Januar - 10. Februar 1934) reflektierte Stalin die von den Regierungen der imperialistischen Staaten erzeugte Kriegsgefahr. „Die Verschärfung des Kampfes um die Auslandsmärkte, die Vernichtung der letzten Reste des Freihandels, die Schutzzölle, der Handelskrieg, der Valutakrieg, das Dumping und viele analoge Maßnahmen, die einen extremen Nationalismus in der Wirtschaftspolitik offenbaren, haben die Beziehungen zwischen den Ländern aufs äußerste zugespitzt, haben den Boden für kriegerische Zusammenstöße geschaffen und den Krieg als Mittel zur Neuaufteilung der Welt und der Einflußsphären zugunsten stärkerer Staaten auf die Tagesordnung gesetzt."85)

Wie 1914 rückten die „Kriegs- und Revancheparteien" des „kriegslüsternen Imperialismus" in den Vordergrund. „Es geht offensichtlich einem neuen Krieg entgegen."86) Die Kriegsgefahr entstünde aus den Widersprüchen des imperialistischen Systems.

Hervorzuheben ist die Elastizität, die Flexibilität der Friedenspolitik der Sowjetregierung, die Stalin im Rechenschaftsbericht ausführlich begründete. Dazu gehörten eine Reihe von Nichtangriffspakten mit den Nachbarstaaten der UdSSR im Westen und Süden, darunter auch verbesserte Beziehungen zum faschistischen Italien.87) Aber es gäbe keine Garantien für einen „Enderfolg". „Überraschungen und Zickzackbewegungen der Politik, zum Beispiel in Polen, wo die sowjetfeindlichen Stimmungen noch groß sind, können bei weitem noch nicht als ausgeschlossen betrachtet werden.88)

Aufmerksamkeit verdient die Stellungnahme Stalins zum faschistischen Deutschland unter dem Aspekt der Sicherung der Existenz der Sowjetunion.

Es gäbe „manche deutsche(n) Politiker", die meinten, daß nach der Errichtung des faschistischen Regimes in Deutschland die UdSSR sich nun auf Frankreich und Polen orientiere, die UdSSR „aus einem Gegner des Versailler Vertrages zu dessen Anhänger geworden sei..."89) Dies sei nicht richtig. „Gewiß, wir sind weit davon entfernt, von dem faschistischen Regime in Deutschland entzückt zu sein." Es liege der Sowjetunion auch fern, „den Versailler Vertrag zu loben." Doch handele es sich hier weder um den Faschismus noch um eine Änderung unserer Haltung zum Versailler Vertrag.

Der Faschismus in Italien war „für die UdSSR kein Hindernis" gewesen, „die besten Beziehungen zu diesem Lande herzustellen."90)

Die UdSSR habe keine Orientierung auf Deutschland noch auf Frankreich und Polen. „Wir orientierten uns in der Vergangenheit und orientieren uns in der Gegenwart auf die UdSSR und nur auf die UdSSR. Und wenn die Interessen der UdSSR eine Annäherung an diese oder jene Länder erheischen, die nicht an einer Störung des Friedens interessiert sind, so sind wir dazu, ohne zu schwanken, bereit."91)

Das war deutlich. Die Außenpolitik der UdSSR war Klassenpolitik. Sie war auf die Erhaltung des Friedens, auf die Sicherung der UdSSR als erstem sozialistischen Staat und als Bollwerk der internationalen Arbeiterbewegung gerichtet. Nur unter diesem Aspekt ist die „Annäherung" an dieses oder jenes Land zu beurteilen. Nach der Kenntnisnahme dieser Ausführungen sollte der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag nicht überraschen.

Zusammenfassend erklärte Stalin:

„Unsere Außenpolitik ist klar: Sie ist eine Politik der Erhaltung des Friedens und der Verstärkung der Handelsbeziehungen mit allen Ländern. Die UdSSR denkt nicht daran, irgend jemand zu bedrohen, und erst recht nicht, irgend jemand zu überfallen. Wir sind für den Frieden und verteidigen die Sache des Friedens. Aber wir fürchten keine Drohungen und sind bereit, auf einen Schlag der Kriegsbrandstifter mit einem Gegenschlag zu antworten. (Stürmischer Beifall.) Wer den Frieden will und sachliche Beziehungen mit uns anstrebt, wird stets bei uns Unterstützung finden. Denjenigen aber, die versuchen sollten, unser Land zu überfallen, wird eine vernichtende Abfuhr zuteil werden, damit ihnen in Zukunft die Lust vergehe, ihre Schweineschnauze in unseren Sowjetgarten zu stecken. (Beifallssturm.)

Das ist unsere Außenpolitik. (Beifallssturm.)

Die Aufgabe besteht darin, diese Politik auch in Zukunft mit aller Beharrlichkeit und Folgerichtigkeit durchzuführen."92)

Fünf Jahre später, auf dem XVIII. Parteitag der KPdSU (B) (10. bis 21. März 1939)93) ging Stalin erneut auf die internationale Lage der Sowjetunion und die dramatisch angewachsene Kriegsgefahr ein.

„Schon das zweite Jahr tobt der neue imperialistische Krieg, der sich auf dem gewaltigen Gebiete von Schanghai bis Gibraltar abspielt und eine Bevölkerung von mehr als 500 Millionen erfaßt hat. Die Landkarte Europas, Afrikas, Asiens wird gewaltsam umgestaltet..."94) Die Widersprüche des imperialistischen Systems ließen sich nicht mehr durch „Konkurrenz auf den Märkten", durch „Handelskrieg", durch „Dumping" lösen. Es gehe jetzt „um die Neuaufteilung der Welt, der Einflußsphären, der Kolonien durch Kriegshandlungen". „Die Frage der Neuaufteilung der Welt durch den Krieg wurde auf die Tagesordnung gesetzt."95)

Es habe sich ein Block von „drei aggressiven Staaten" gebildet, die neue imperialistische Kriege begonnen haben. 1935 überfiel und annektierte Italien Abessinien, 1936 folgte die militärische Intervention Deutschlands und Italiens in Spanien, 1937 brach Japan nach der Annexion der Mandschurei in Nord- und Zentralchina ein, 1938 annektierte Deutschland Österreich und das Sudetengebiet der Tschechoslowakei. Japan habe den Neunmächtepakt96), Deutschland und Italien den Versailler Vertrag zerrissen, alle drei Staaten seien aus dem Völkerbund ausgetreten.96a)

Noch sei der neue imperialistische Krieg nicht zu einem Weltkrieg geworden. Obwohl die aggressiven Staaten die Interessen der „nichtaggressiven" Staaten England, Frankreich, der USA „in jeder Weise" schädigen, wichen die letzteren zurück, machten „den Aggressoren ein Zugeständnis nach dem anderen."

Obwohl die „nichtaggressiven", „demokratischen" Staaten zusammen unzweifelhaft sowohl in ökonomischer als auch in militärischer Hinsicht stärker seien als die faschistischen Staaten, wichen sie vor den letzteren zurück. Sie haben sich, vor allem England und Frankreich, von „der Politik der kollektiven Sicherheit", „der Politik der kollektiven Abwehr" der Aggressoren losgesagt, die Position der Nichteinmischung der „Neutralität" bezogen. Über die Ursachen dieses Sachverhalts meinte Stalin:

„In Wirklichkeit bedeutet jedoch die Politik der Nichteinmischung eine Begünstigung der Aggression, die EntfesseIung des Krieges und folglich seine Umwandlung in einen Weltkrieg. In der Politik der Nichteinmischung macht sich das Bestreben, der Wunsch geltend, die Aggressoren bei der Ausführung ihres dunklen Werkes nicht zu hindern, zum Beispiel Japan nicht zu hindern, sich in einen Krieg gegen China, noch besser aber gegen die Sowjetunion einzulassen, zum Beispiel Deutschland nicht zu hindern, sich in die europäischen Angelegenheiten zu verstricken, sich in einen Krieg gegen die Sowjetunion einzulassen, alle Kriegsteilnehmer tief in dem Morast des Krieges versinken zu lassen, sie im stillen dazu anzuspornen, dazu zu bringen, daß sie einander schwächen und erschöpfen, dann aber, wenn sie genügend geschwächt sind, mit frischen Kräften auf dem Schauplatz zu erscheinen und, natürlich, ‘im Interesse des Friedens’ aufzutreten, um den geschwächten Kriegsteilnehmern die Bedingungen zu diktieren."97)

Es ging den „demokratischen", „nichtaggressiven" Staaten letztendlich darum, einen Krieg zwischen der UdSSR und Deutschland zu provozieren.98) Es dürfte wohl kein begründeter Zweifel bestehen, daß Stalin die Situation richtig erkannt hatte. Man könnte jedoch fragen, warum er in Kenntnis dieses Sachverhalts die „demokratischen" Staaten als „nichtaggressiv" bezeichnete. Sie waren im Unterschied zu den faschistischen Staaten nicht offen, sondern verschleiert aggressiv. Die Appeasementpolitik Chamberlains läßt wohl keine andere Schlußfolgerung zu.

„Der Gedanke liegt nahe, man habe den Deutschen Gebiete der Tschechoslowakei als Kaufpreis für die Verpflichtung gegeben, den Krieg gegen die Sowjetunion zu beginnen, daß sich die Deutschen nunmehr weigern, den Wechsel einzulösen, und den Gläubigern die Tür weisen."99)

Der Sowjetunion drohte ein neuer Aggressionskrieg. Darüber hatte Stalin auch nicht den geringsten Zweifel. Sich auf diesen Krieg vorzubereiten, war ein Gebot nationaler- und kommunistischer Klassenpolitik, sowohl gegenüber den Völkern der Sowjetunion als auch der internationalen Arbeiterklasse, der Kommunistischen Internationale.

2.2. Die Vorbereitung auf den Krieg

2.2.1. Materiell-technische Vorbereitung

Um dies vorweg zu nehmen: Das Ziel sozialistischer Wirtschaftspolitik wird bestimmt durch das ökonomische Grundgesetz des Sozialismus, das nach einem Vorschlag Stalins aus dem Jahre 1952 „etwa folgendermaßen formuliert werden" könnte: „Sicherung der maximalen Befriedigung der ständig wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft durch ununterbrochenes Wachstum und stetige Vervollkommnung der sozialistischen Produktion auf der Basis der höchstentwickelten Technik."100)

Es geht hier nicht darum, daß dieses Grundgesetz in den 20er und 30er Jahren noch nicht erkannt und formuliert werden konnte, daß es in den 60er Jahren von Walter Ulbricht anders akzentuiert wurde101), sondern nur darum, Fehlinterpretationen vorzubeugen. Das Grundgesetz abstrahiert von den innenpolitischen Rahmenbedingungen, unter denen der Aufbau des Sozialismus in einem Lande - nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Staatengruppe - wirken konnte. Innerhalb dieser Zielsetzung sozialistischer Wirtschaftspolitik - in einem Lande! - in einer feindlichen imperialistischen Umwelt - nahm die Vorbereitung des Landes auf den Kriegsfall in der UdSSR einen hohen Stellenwert ein. Die Landesverteidigung ist von der Ökonomie abhängig, wie umgekehrt die Erfordernisse der Landesverteidigung der Ökonomie ihren Stempel auf drücken. Im „Anti-Dühring" wies Engels darauf hin, daß „Gewalt kein bloßer Willensakt" sei, „sondern sehr reale Vorbedingungen zu ihrer Betätigung erfordert, namentlich Werkzeuge, von denen das vollkommenere das unvollkommenere überwindet; daß ferner diese Werkzeuge produziert sein müssen, womit zugleich gesagt ist, daß der Produzent der unvollkommeneren besiegt, und daß, mit einem Wort, der Sieg der Gewalt beruht auf der Produktion von Waffen, und diese wieder auf der Produktion überhaupt, also - auf der ‘ökonomischen Macht’, auf der ‘Wirtschaftslage’, auf den der Gewalt zur Verfügung stehenden materiellen Mitteln... Bewaffnung, Zusammensetzung, Organisation, Taktik und Strategie hängen vor allem ab von der jedesmaligen Produktionsstufe und den Kommunikationen." Aber die Gewalt, das waren 1877, als Engels den „Anti-Dühring" schrieb, „Armee und die Kriegsflotte", die beide, „heidenmäßig viel Geld" kosten.101a)

Die beschleunigte Entwicklung der Industrie in den 20er und 30er Jahren der Sowjetunion ist in erster Linie unter diesem Aspekt der Verteidigung gegen eine imperialistische Aggression zu verstehen. In seiner Rede auf der ersten Unionskonferenz der Funktionäre der sozialistischen Industrie am 4. Februar 1931 gab Stalin unmißverständlich zu verstehen: „Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern um 50 bis 100 Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren durchlaufen. Entweder bringen wir das zuwege, oder wir werden zermalmt."102) Daß auch dies „heidenmäßig viel Geld" kosten würde, war einem Stalin natürlich bekannt.

Um die vom Zarismus ererbte ungeheure Rückständigkeit der sowjetischen Rüstungsindustrie nur auf einem Sektor, der Flugzeugindustrie, zu demonstrieren, dokumentiere ich aus dem aufschlußreichen Artikel des DDR-Wirtschaftjournalisten, Diplom-Ökonom Walter Florath „Stalin und das Aluminium."103)

Florath zitiert aus dem Roman „Krieg" von Ludwig Renn, wie 1914 beim Marsch auf Paris die Soldaten aus der Feldküche verpflegt wurden. Sie „hatten Aluminium Teller vor sich ... und bliesen in die heißen Löffel." - Oskar Maria Graf reiste zwanzig Jahre später mit einer deutschen Delegation nach Georgien. Er schrieb: „Mir kam es vor, als sei Rußland, dieses riesige, unübersichtliche Land, etwas wie ein undurchdringlicher Urwald, den die Sowjets gleichsam wie kühne, unverdrossene Siedler Stück für Stück rodeten und bewohnbar machten." Graf schilderte ein Festessen im Dorf: „Man hockte im Kreis und verzehrte aus hölzernen Schüsseln die Mahlzeit mit den Händen oder mit Holzlöffeln..." Er fragte: „Was ist das denn für ein schrecklicher Gestank hier?" Die Antwort: „Die meisten Menschen waschen sich mit Pferdeurin..." Das half gegen Läuse.104) Florath schlußfolgert, daß die Kaukasier selbst 1934 weder Aluminium noch Insektenbekämpfungsmittel kannten. Florath zitiert Ilja Ehrenburg aus seiner Trilogie „Menschen, Jahre, Leben", wie dieser 1932 eine Kantine eines im Bau befindlichen Werkes besichtigte: „Beim Eintritt mußte man die Mütze abgeben; zurück bekam man sie erst, wenn man seinen Löffel abgeliefert hatte. Die Mützen lagen auf einen Haufen am Boden. Man mußte lange suchen, bis man sie fand." Ehrenburg sagte dem Kantinenleiter, daß das entwürdigend sei. Doch der antwortete barsch: „Für die Löffel hafte ich und nicht, Sie!"105)

Die Aluminiumproduktion war in der UdSSR gerade erst angelaufen und Aluminiumlöffel waren dabei nicht das wichtigste. Nach und nach wurden sie an Betriebe geliefert, zu Hause aß man noch mit Holzlöffeln.

Ein solches Land sollte der mit Sicherheit erwarteten Aggression eines hochgerüsteten imperialistischen Staates standhalten! Aus diesem Sachverhalt erklärt sich der Druck, den Stalin ausübte, um die Industrialisierung in kürzester Frist durchzusetzen. Florath zitiert aus dem „Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich 1941/42, Geheim":

Gewinn von Aluminium in Tonnen:

Jahre Deutschland Frankreich USA UdSSR

1929 33.300 29.100 102.100 0

1933 18.300 14.300 36.600 4.400

1939 199.400 50.000 148.400 50.000

„Deutschland war also zum größten Aluminiumproduzenten der Welt geworden, hatte die USA weit überholt, erzeugte das Vierfache Frankreichs! Hierbei ging es nicht um Löffel, sondern um Bomber, Jäger, Stukas, Aufklärer, Schlachtflugzeuge, Transporter! Die deutsche Aluminiumproduktion ist der unwiderlegbare Beweis, daß das Nazireich Krieg wollte.

Die Sowjetunion konnte bei Beginn des 2. Weltkrieges immerhin schon ein Viertel der Aluminiummenge des aggressivsten imperialistischen Staates herstellen, natürlich nicht, damit die russischen Arbeiter nicht mehr Mütze gegen Löffel erhielten, sondern um sich dagegen zu rüsten, nicht zermalmt zu werden.

Addieren wir einmal die Mengen, die insgesamt von 1929 bis 1939 produziert wurden:

Deutschland Frankreich USA UdSSR

756.500 to 240.000 to 741.700 to 205.000 to

Für Löffel war da nichts übrig.

Die Herstellung von Aluminium ist aber viel komplizierter als die Gewinnung von Kupfer, Zinn, Eisen. Das konnten schon die alten Ägypter, Griechen, Römer, sogar Germanen und Kelten. Aluminium tritt in der Natur allein chemisch gebunden auf, als Bauxit. Man gewinnt es vor allem durch Elektrolyse, man muß durch eine Bauxitbrühe elektrischen Strom leiten, so daß sich an der Anode eine Aluminiumplatte bildet."106)

Für die Aluminiumproduktion benötigte die UdSSR also auch Kraftwerke nebst den dazu gehörigen Apparaten, Kabel, und dafür benötigt man wiederum Stahl, um die erforderlichen Maschinen herzustellen. Kurz: für die Aluminiumproduktion ist eine komplette moderne Industrie erforderlich, die es in der UdSSR eben noch nicht gab.

Schon vor dem l. Weltkrieg war Rußland hinter Deutschland, Frankreich, den USA weit zurück geblieben. In Ullsteins „Weltgeschichte" von 1925 findet man folgende Angaben:

„Kohleproduktion 1913 in Mio. Tonnen:

USA: 517 England: 292 Deutschl.: 262 Frankreich: 41 Rußland: 36

Roheisenproduktion 1913 in Mio. Tonnen:

USA: 31.5 Deutschl.: 19.3 England: 10.4 Frankreich: 5,3 Rußland: 4,6

Der 1. Weltkrieg, Bürgerkrieg und Intervention imperialistischer Mächte führten in Rußland zu ungeheuren Zerstörungen. Die Landwirtschaft erreichte 1920 nur 65 % der Erträge von 1913.

Die Produktion der Schwerindustrie war auf 10 % von 1913 gesunken. Die Kohleförderung im Donezbecken erreichte 1920/21 nur 20 Prozent, die Metallurgie in der Ukraine kaum 4 % des Vorkriegsstandes."107)

Um eine moderne Industrie aufzubauen, benötigte man auch Fachleute, Ingenieure, Facharbeiter, die erst herangebildet werden mußten, und auch dafür mußten materielle Voraussetzungen geschaffen werden. Ohne Aluminium keine Flugzeugproduktion, und ohne diese auch keine Kampfflugzeuge. Aber auch für Kampfflugzeuge mußte man Piloten, Navigatoren, Ingenieure und anderes Fachpersonal für die Instandhaltung ausbilden.

Wolkogonow, einer der übelsten „Glasnost"-Schriftsteller, der über Stalin nur in abwertender Form schreibt, kann natürlich nicht begreifen, daß Stalin „zur Lösung der Verteidigungsaufgaben höchste Forderungen" stellte, „die meist an der Grenze des menschlichen Leistungsvermögens lagen." Er muß jedoch zugeben, daß „Stalin begriff, daß von der Mobilisierung aller Ressourcen des Landes dessen Fähigkeit abhing, künftige Prüfungen zu bestehen,..."108)

„Stalin widmete führenden Konstrukteuren der Verteidigungsindustrie des Landes große Aufmerksamkeit. Die meisten von ihnen kannte er persönlich, oft kam er mit ihnen bei der Beratung über die verschiedenen technischen und organisatorischen Probleme im Kreml zusammen. Seine Entscheidungen waren stets kompromißlos, sogar grausam. Ihre Erfüllung forderte immer Opfer. Zur Beseitigung des Rückstands in der Flugzeugindustrie beschloß zum Beispiel das Politbüro des ZK auf Forderung Stalins im September 1939, 1940 und 1941 neun neue Flugzeugwerke zu bauen! Ebenso viele Werke sollten rekonstruiert werden. Die Flugzeugindustrie begann, nach einem unerbittlichen Zeitplan zu arbeiten. Ihr Volkskommissar mußte jeden Tag die Anzahl der gebauten Flugzeuge und Motoren dem ZK melden. Die Menschen kamen häufig tagelang nicht aus Werkhallen, Labors und Konstruktionsbüros heraus. In quantitativer Hinsicht vollzog die Flugzeugindustrie einen großen Sprung nach vorn, mit der Herstellung neuer Flugzeugtypen wurde jedoch erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1940 begonnen."109)

Wolkogonow kann also nicht bestreiten, daß diese Entscheidungen Stalins richtig waren, aber in seiner schon pathologischen Anti-Stalin-Einstellung erklärt er die notwendige Härte in den Entscheidungen Stalins nicht aus der drohenden Kriegsgefahr, obwohl er sie nicht einmal leugnen kann, sondern daraus, daß „Stalin von Natur aus ein grausamer Mensch war."110) Eine geradezu entzückende Geschichtsauffassung, die sich selbst erledigt und keines Kommentars bedarf.

Beim Aufbau von Luftstreitkräften, noch dazu in einem durch die internationale Lage bedingten forcierten Tempo waren häufige Unfälle und Havarien unvermeidlich. Es gab auch Mängel in der Qualität der Produktion der ersten Flugzeuge. In keinem Lande sind wohl Luftstreitkräfte ohne Havarien aufgebaut worden. Havarien waren keine Besonderheit der sowjetischen Verteidigungsindustrie. Im Krieg gegen die japanischen Aggressoren am Calchin-Gol im Sommer 1939 haben sich die sowjetischen Maschinen und ihre Piloten jedoch bewährt, wie Shukow in seinen Erinnerungen ausdrücklich vermerkt.111) Nach den Erinnerungen sowjetischer Flieger, die als Freiwillige in China gegen die japanischen Invasoren (1937-1940) kämpften, haben sich die sowjetischen Maschinen, die dem damaligen Stand der Technik entsprachen, ebenfalls bewährt. Deren Erfahrungen zeigten natürlich auch technisch bedingte Grenzen in den Luftkämpfen, die in der sowjetischen Flugzeugindustrie bei der Entwicklung neuer Typen ihre Berücksichtigung fanden.112)

Über die materiell-technische Vorbereitung der Sowjetunion auf eine imperialistische Aggression seien noch Ausführungen des ehemaligen Botschafters der USA in der Sowjetunion, Joseph E. Davies, dokumentiert (mit Datumsangabe, soweit möglich):

„Ein Teil der Schwerindustrie jedoch ist von lebenswichtiger Bedeutung, vielleicht sogar ausschlaggebend für den Bestand der Regierung, insofern er für die Kriegsbereitschaft eine Notwendigkeit darstellt. Militärische Beobachter sind gewöhnlich der Ansicht, daß die gegenwärtige Sowjetarmee inbezug auf Mannschaften und Offiziere erstklassig ist. Man hält im allgemeinen dafür, daß diese Armee sich im Kriegsfalle glänzend bewähren würde. Aber bei der modernen Kriegführung ist die Front nicht stärker als die zweite Verteidigungslinie, das heißt als die Versorgung mit Ausrüstungsgegenständen, Tanks, Munition und dergleichen. Die verantwortlichen Persönlichkeiten der Regierung sind, soviel ich weiß, sehr ‘kriegsbewußt’: sie rechnen stark mit der Bedrohung durch Deutschland auf der einen Seite und Japan auf der anderen. Indessen ist nicht daran zu zweifeln, daß Kalinin im Namen seiner Kollegen sprach, wenn er zu mir äußerte, sie hätten volles Vertrauen zu ihrer Armee und fühlten sich gegen Angriffe gesichert, selbst dann, wenn sie von beiden Seiten zugleich erfolgten. Die geographische Verteilung der Industrie innerhalb des Landes beweist, daß der Industrieplan zum Teil als Kriegsmaßnahme entworfen und organisiert worden ist." (1937)113)

„Die Kriegsgefahr hatte für den Haushaltsplan von 1935 und 1936 eine fünfzehn-, bzw. zwanzigfache Vermehrung im Vergleich mit 1931 nötig gemacht. Dies bedeutete eine schwere und direkte Belastung des Industrieprogramms. Viele Unternehmungen wurden auf Kriegslieferungen umgestellt. Anlagen für landwirtschaftliche Maschinen, für Fabrikbedarf, für Eisenwaren und dergleichen wurden nun für die Herstellung von Tanks, Flugzeugen, Kriegsmunition etc. eingerichtet. Dies verlangsamte abermals die Erfüllung der Versprechungen für Besserstellung, die die herrschende Macht dem Proletariat in Aussicht gestellt hatte."(28. Juli 1937)114)

Die von den imperialistischen Staaten der UdSSR aufgezwungene forcierte Rüstungsindustrie ging natürlich auf Kosten der Produktion von Konsumgütern. Auch für die UdSSR galt, daß die Rüstungsindustrie „heidenmäßig viel Geld kostet."

Davies: „Ein Viertel des Nationaleinkommens wurde letztes Jahr (1937/UH) für Kriegszwecke aufgewandt. Gemessen am (illegalen) Goldwerte des Rubels, sind dies ungefähr zweieinhalb Milliarden Dollar. Die diesjährigen Ausgaben werden wahrscheinlich noch größer sein. Eine fast fieberhafte Kriegsvorbereitung kündet sich an. Reisende berichten, daß gewaltige Lebensmittelvorräte und Militärlieferungen, Tanks, Unterseebootjäger, Flugzeuge, Camions (LKW/UH) und so weiter sich in endlosem Strom nach dem Fernen Osten ergießen..."

„Diejenigen Industriezweige, welche direkt für Kriegslieferungen arbeiten, sind seit kurzem unmittelbar der Leitung und Aufsicht durch die Armee unterstellt." (1938)115)

Petroleum-Produkte - Gewinnung, Raffinierung und Hafeneinrichtungen für den Export

„Das genannte Gebiet produziert 75 % des Petroleums der Sowjetunion und verfügt über die größten und wichtigsten Röhrenleitungen. Der Distrikt von Batum und Baku erzeugt, zusammen mit dem Kaukasus, ungefähr 90 % der gesamten Petroleumproduktion der Sowjets. Die Petroleumreserven der Sowjetunion gehören zweifellos zu den größten der Welt. Es heißt, die Ölgewinnung in der Sowjetunion übertreffe alle anderen in Europa. Der Export von Petroleum und Petroleumprodukten ist von 6.000.000 Tonnenx) 1932 auf 3.000.000 1935 und 1.929.147 im Jahre 1937 gefallen. Im Hinblick auf die riesigen Reserven, die die Sowjetunion haben soll, dürfte es trotzdem von Interesse sein, sich ein Urteil über die vorhandenen oder im Bau befindlichen Einrichtungen für den Export von Petroleum oder Petroleumprodukten in den bedeutendsten Exporthäfen der Sowjetunion zu bilden.

Inbezug auf die Petroleumindustrie der Sowjetunion ist der wesentlichste Faktor die gewaltige Zunahme des Verbrauchs im Lande selbst. Die Anstrengungen der letzten zehn Jahre zur Industrialisierung des Landes, zur Mechanisierung der Landwirtschaft im Sowjetgebiet und zur Erhöhung der Produktion und des Gebrauchs von Automobilen und Camions haben zu einer Zunahme des Verbrauchs an Benzin geführt, die zur Erzeugung desselben in keinem Verhältnis steht. 1932 betrug der Konsum an Benzin 647.000 Tonnenx), was 25 % der Produktion gleichkommt. 1937 hatte der Konsum das Sechsfache erreicht, mit schätzungsweise 3.500.000 Tonnen, während die Produktion in der gleichen Zeitspanne nur verdoppelt werden konnte, das heißt, sie war von 2.459.000 im Jahr 1932 auf 4.870.000 Tonnen 1937 gestiegen. Das Ergebnis war der oben erwähnte beständige Rückgang des Exports von Petroleumprodukten. Dies erklärt auch zum Teil, warum die Sowjets jetzt Petroleum und Petroleumprodukte einführen. Innerhalb der beiden letzten Jahre hat sich der Import aus den Vereinigten Staaten allein um ungefähr 600 % erhöht. Dieser besteht zum größten Teil aus Hochoktan-Flugzeugbenzin aus Kalifornien, das zu Schiff nach den fernöstlichen Sowjetgebieten transportiert wird. Ein anderer Grund für diese Ankäufe liegt sicher in der Tatsache, daß die Sowjetregierung sehr darum bemüht ist, ihre Kriegsreserven an Benzin zu bewahren und zu vergrößern. Dies ist einer der schwächsten Punkte in der Kriegswirtschaft der Sowjets. Letzten Sommer war es in Moskau schwierig, auch nur Benzin zweiter oder dritter Sorte für Camions zu erhalten." (1. Juni 1938)

x) „Tonnen" ist hier und im folgenden für „metric tons" = je 2204,6 Pfund gebraucht. - Anm. d. Übers116)

2.2.2. Die „Enthauptung" der Roten Armee - Wahrheit und Legende

Natürlich mußten auch die Streitkräfte der UdSSR auf den Verteidigungsfall vorbereitet werden. Das Hauptproblem in den Streitkräften bestand in der Unterwanderung des Offizierskorps durch Trotzkisten und Agenten ausländischer Mächte. Die Auseinandersetzung mit den Trotzkisten und der Bucharingruppe in der Partei117) fand auch in den Streitkräften und im Sicherheitsapparat, dem NKWD, statt. Die Trotzkisten in den höchsten Kommandostellen, im Generalstab und an der Spitze der Militärbezirke, in Armee, Marine und Luftwaffe stellten für die Sowjetunion eine tödliche Gefahr dar.

In der bürgerlichen, revisionistischen und trotzkistischen Publizistik wird seit Jahr und Tag die antistalinsche These von der „Enthauptung" der Roten Armee durch Stalin verbreitet, zum Teil mit schon astronomisch anmutenden Ziffern von Todesurteilen, obwohl durch sukzessive Veröffentlichungen von Archivmaterialien in den 90er Jahren diese Lügen widerlegt sind.118)

Aus dem gut recherchierten Aufsatz von Andrea Schön: „Geschichtslügen: Fundamente des Anti-’Stalinismus’"119), dokumentiere ich folgende Zahlen: „Nach Informationen, die im Februar der Presse freigegeben wurden, sind in 23 Jahren zwischen 1930 und 1953 786.098 Menschen wegen Verbrechen gegen die Revolution zum Tode verurteilt worden, davon 631.692 in den Jahren 1937 und 1938. Diese Zahlen bedürfen allerdings noch der Überprüfung. Nach den vorliegenden Daten aus den Archiven schätzt Mario Sousa120) die Zahl der tatsächlich vollstreckten Todesurteile 1937 - 38 auf ca. 100.000. Viele Todesurteile seien in Haftstrafen umgewandelt worden bzw. basierten auf Verbrechen wie Mord oder Vergewaltigung.

„Schließlich bleibt noch die Frage nach der durchschnittlichen Dauer der Strafe in einem Arbeitslager. Die antikommunistischen Propagandisten erwecken den Eindruck, daß ein Strafgefangener normalerweise das Arbeitslager nicht überlebte bzw. endlos lange gefangen gehalten wurde. Es zeigt sich jedoch, daß die Strafzeit in der Stalinzeit für den größten Teil der Gefangenen maximal 5 Jahre betrug. So erhielten nach der American Historical Review 82,4 % der gewöhnlichen Kriminellen im Jahre 1936 Haftstrafen von bis zu 5 Jahren und 17,6 % zwischen 5 und 10 Jahren. Von den politischen Gefangenen erhielten 44,2 % Haftstrafen bis zu 5 Jahren und 50,7 % zwischen 5 und 10 Jahren. Für 1939 liegen von sowjetischen Gerichten folgende Zahlen vor: 95,9 % bis zu 5 Jahre, 4 % zwischen 5 und 10 Jahre und 0,1 % über 10 Jahre."121)

Demnach sind in den angegebenen Zahlen gewöhnliche Kriminelle mit enthalten, die von den Geschichtsfälschern als „politische" Häftlinge ausgegeben werden.

Bezüglich der Reinigung der Roten Armee im Zusammenhang mit der Verschwörung um Marschall Tuchatschewski gibt Andrea Schön folgende Zahlen an: „Im Jahre 1937 gab es 144.300 Offiziere und politische Kommissare in Armee und Luftwaffe und 282.300 im Jahre 1939. Während der Säuberungen 1937/38 wurden 34.300 Offiziere und Kommissare aus politischen Gründen entlassen. Bis zum Mai 1940 wurden allerdings 11.596 rehabilitiert und wieder in ihre Posten eingesetzt. Das heißt, zu den Entlassenen zählten 22.705 Offiziere und Kommissare (davon 13.000 Armeeoffiziere, 4.700 Luftwaffenoffiziere und 5.000 politische Gefangene). Das sind insgesamt 7,7 % aller Offiziere und Kommissare, wovon wiederum nur ein geringer Teil als Verräter verurteilt wurde, während der Rest ins zivile Leben zurückkehrte."122)

Andrea Schön zieht noch einen interessanten Vergleich zwischen den Horrorangaben von Robert Conquest über die „Millionentoten" in der Sowjetunion mit Archivdaten für den Zeitraum von 1939 bis 1950:

Im Zeitraum nach Behauptung Conquests nach Archivdaten

1939 12 Mio. politische Gefangene in Arbeitslagern 454.432

1937 – 39 3 Mio. tote politische Gefangene 166.424 Tote

insgesamt:

1950 12 Mio. politische Gefangene 578.912

„Insgesamt lebten im angegebenen Zeitraum 2,5 Millionen Sowjetbürger in Gefangenschaft, d.h. 2,4 % der erwachsenen Bevölkerung - sicherlich keine geringe Zahl und ein Indikator für die noch bestehenden Widersprüche in der Gesellschaft. Trotzdem lag die Zahl noch unter der der imperialistischen Hauptmacht. Ein Vergleich mit den Daten aus den USA: 1996 gab es im reichsten Land der Welt 5,5 Millionen Gefangene, d.h. 2,8 % der erwachsenen Bevölkerung.

Nun zur Frage der Todesopfer. Der prozentuale Anteil der im Arbeitslager Verstorbenen variiert im angegebenen Zeitraum zwischen 0,3 % und 18 %. Die Todesursachen waren im wesentlichen auf die allgemeine Mangelsituation im Lande zurückzuführen, insbesondere die medizinische Versorgungslage zur Bekämpfung von Epidemien. Das betraf damals allerdings wie erwähnt nicht nur die Sowjetunion, sondern auch alle entwickelten Länder. Erst mit der Erfindung des Penicillin während des Zweiten Weltkrieges wurde ein wirksames Mittel gegen ansteckende Krankheiten geschaffen. Tatsächlich waren es wiederum die Kriegsjahre, in denen die Hälfte aller Todesfälle im untersuchten Zeitraum zu verzeichnen war. Nicht zu vergessen die 25 Millionen Todesopfer, die ‘in Freiheit’ starben. Der systematische Rückgang der Todesopfer nach dem Zweiten Weltkrieg (nominal und prozentual) ist denn auch auf die verbesserte medizinische Versorgung zurückzuführen."123)

Ausführlich und ausreichend dokumentiert wird im Zusammenhang mit dem Prozeß gegen Bucharin, darunter gegen Offiziere der Roten Armee, die gesamte Situation um und während der Zeit von 1937/38 von Hans Wauer und Hans-Jürgen Falkenhagen in ihrer Schrift: „Nikolai Bucharin: Revisionist, Renegat, Verräter, Teil III, ‘Anklage und Verurteilung’" dargestellt.124)

Es gehört zum Besten, was bisher von der marxistisch-leninistischen Historiographie zu den Prozessen veröffentlicht wurde. Man muß das Rad nicht neu erfinden, und so werden aus diesem Kapitel die Ausführungen zu den Militärprozessen dokumentiert: „Falsch ist auch die Behauptung von einer Massenhinrichtung sowjetischer Offiziere. In der Roten Armee und Flotte wurden von 1937 - 1939 36.898 Offiziere aus Altersgründen, wegen unzureichender Gesundheit, Disziplinarverstößen, moralischen Verfehlungen und mangelndem politischen Bewußtsein sowie wegen politischen Strafverdachts entlassen. Von den aus politischen Gründen Entlassenen wurden 9.579 verhaftet, davon wurden etwa 2.000 wegen erwiesener Unschuld wieder entlassen oder, soweit sie verurteilt waren, rehabilitiert. Von den insgesamt entlassenen 36.898 Offizieren wurden bis zu 1. l. 1941 insgesamt 15.000 wieder in die Reihen der Roten Armee und Flotte in Offiziersdienstgraden aufgenommen. Weitere Entlassungen und Rehabilitierungen erfolgten während des Großen Vaterländischen Krieges. Darüber liegen uns aber keine genauen Zahlen vor. Auf Grund von Paragraphen über konterrevolutionäre Verbrechen wurden 1937/1938 70 Offiziere zum Tod durch Erschießen verurteilt, wobei die Urteile vollstreckt wurden. In den Reihen der Unteroffiziers- und Mannschaftsdienstgrade sind wegen konterrevolutionärer Verbrechen keine Todesurteile ergangen.

In den Reihen der führenden Militärs gab es auch Kräfte, die im Auftrag US-amerikanischer und britischer Finanzkreise daraufhinarbeiteten, die Sowjetunion in einen langandauernden Krieg mit Japan und Deutschland hineinzuziehen. Das spielte besonders in den späteren Prozessen gegen Blücher, Schtern, den Kommandeur bzw. Stabschef der Fernoststreitkräfte, und Smuschkewitsch, dem Generalinspekteur der sowjetischen Luftwaffe, eine Rolle. In die Verschwörergruppen einbezogen war auch der Trotzkist und spätere Marschall der Sowjetunion und Verteidigungsminister unter Chruschtschow Malinowski, der sich bei der Aufdeckung der Militärverschwörung in Spanien befand. Das Öffnen der Fronten - ein Begriff, der in den Gerichtsreden von Wyschinski oft auftaucht -, ist so zu erklären, daß der Sturz Stalins durch unerlaubte Provokation von Angriffen und dosierte militärische Niederlagen herbeigeführt werden sollte. Die Kommandeure der Fernostarmee Blücher und Grigori Schtern wurden u.a. wegen solcher Machenschaften bei den militärischen Auseinandersetzungen mit Japan angeklagt. Eine ähnliche Anklage wurde z.B. gegen den Generalinspekteur der sowjetischen Luftwaffe Smuschkewitsch in Bezug auf Deutschland erhoben, als er auf sowjetischen Flugplätzen unzureichende Schutz- und Tarnmaßnahmen ergriffen hatte, die auf die deutsche Luftwaffe wie eine Öffnung der Fronten wirken mußte.

Zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges dienten etwa 500.000 Offiziere in den Reihen der Roten Armee und Flotte und des NKWD. Die Anzahl der Offiziere im Generals- und Admiralsrang hatte sich seit 1937 mindestens vervierfacht. Von einer Enthauptung der Roten Armee kann also in der Tat keine Rede sein. Aus dem Apparat des Staatssicherheitsdienstes wurden bis Ende 1940 etwa 22.000 Angehörige entlassen und 300 - 400 Offiziere zum Tode verurteilt. Einige Angehörige der Roten Armee und Flotte sowie des NKWD kamen bei Fluchtversuchen und Schießereien mit den Sicherheitskräften ums Leben.

Es sei nochmals betont, daß, soweit Unschuldige verurteilt wurden, diese in allen Fällen aus den Reihen der unteren und mittleren Kader kamen. Die Nichtverurteilung oder Rehabilitierung kann aber umgekehrt nicht als absolut schlüssiger Beweis dienen, daß bestimmte Personen keine Straftaten begangen haben. Bei den nach Stalins Tod (1953) erfolgten Rehabilitierungen liegen in mindestens 50 % der Fälle keine klaren Unschuldsbeweise vor. Chruschtschow setzte bekanntlich ausgemachte Verräter wie Snegow wieder auf freien Fuß und sogar in vielen Fällen wieder in hohe Funktionen ein, und das nicht nur, weil er Stalin haßte und an Stalingegnern Gefallen fand, sondern in der klaren Absicht, eine neue konterrevolutionäre Avantgarde aufzubauen.

Die obigen aus den Archiven des NKWD, der Staatsanwaltschaft und der Gerichte stammenden Zahlen widerlegen eindeutig die Lüge von 2 - 3 Millionen, in einigen Fällen sogar von 10 - 12 Millionen Hinrichtungen in den Jahren 1937 - 1939. Wenn man das Ausmaß der Unterwanderung der NKWD berücksichtigt, hat es auch dort eine keineswegs horrende Anzahl von Verhaftungen und Anklagen gegeben. Stalin wird vorgeworfen, im Herbst 1937 sogenannte Verhaftungsquoten festgelegt zu haben. Solche Quoten sind von der Führung des NKWD, wie oben gesagt, teils in provokatorischer Absicht festgelegt worden. Es sei hier noch angemerkt, daß im Herbst 1937, auch noch 1938, aus dem NKWD heraus ein Putsch drohte. Einige NKWD-Offiziere planten die Ermordung Stalins. Stalin nahm z.B. an der zentralen Feier zum 20jährigen Bestehen des NKWD (Tscheka, GPU, OGPU) im Dezember 1937 nicht teil. Wegen mangelnder Wachsamkeit im NKWD selbst sowie wegen Ungesetzlichkeiten mußte sich letztlich auch Jeschow vor Gericht verantworten. Obwohl er persönlich wie auch sein Stellvertreter Frinowski, ebenfalls wie Jeschow russischer Nationalität, sicherlich in ehrlicher Absicht gegenüber der Partei und dem Sowjetvolk gehandelt hatte, mußten sie im Endeffekt die Verantwortung für zahlreiche Fehler in der Arbeit des NKWD übernehmen.

Was in den sogenannten Moskauer Prozessen von 1936 - 1938 und in den Jahren der sogenannten Großen Säuberung geschah, muß in jedem Fall in folgendem Zusammenhang gesehen werden:

Der Klassenfeind hat seit Bestehen der Sowjetmacht nie mit seinen Versuchen aufgehört, die Macht der Arbeiter und Bauern in der Sowjetunion zu stürzen. Diese Versuche spiegelten sich nicht nur in dem der jungen Sowjetmacht aufgezwungenen Bürgerkrieg und in Aufständen, sondern natürlich auch in den polemischen Auseinandersetzungen in der Partei wider. Es gab immer wieder sogar hohe Parteifunktionäre, die sich mehr oder weniger kamoufliert zu Wortführern von Interessen machten, die gegen das Sowjetvolk und den Sozialismus gerichtet waren. Im Großen und Ganzen kämpfte man in den 20er Jahren jedoch noch mit offenem Visier um Mehrheiten im ZK, in der Partei und im Sowjetvolk.

Ab Beginn der 30er Jahre begannen imperialistische Staaten mit verstärkten Kriegsvorbereitungen gegen die Sowjetunion. Sie intensivierten dabei auch ihre Spionage-, Sabotage-, Diversions- und Subversionstätigkeit gegen die UdSSR. Dabei bedienten sie sich schwerpunktmäßig der trotzkistischen und bucharinistischen Kräfte, die noch im Lande in großer Zahl aktiv waren. Wo sie nicht mehr aktiv waren, versuchte man ihre Aktivitäten wiederzubeleben. Die dabei angewandten Methoden sind in der Tat wegen ihrer superkriminellen Abgefeimtheit und grenzenlosen Niederträchtigkeit für Menschen mit Ehre und Gewissen nicht nur empörend, sondern selbst für Menschen mit nicht allzu hoher moralischer Meßlatte geradezu schockierend. Die Menschen der Sowjetunion gaben ihre ganze Kraft und ihre ganzen Fähigkeiten hin, um voller Idealismus eine bessere Welt aufzubauen. Es stellen sich Erfolge ein, die überwältigend sind. Ehrliche Menschen der ganzen Welt freuten sich darüber, was die erweckten Kräfte von Arbeitern, Bauern und Intellektuellen zustande bringen.

Die Feinde dieser Entwicklung nahmen das aber zum Anlaß, ihren Kampf dagegen zu verstärken und dabei zu Methoden der äußersten Raffinesse, Arglistigkeit, Hinterhältigkeit und mörderischen Heimtücke überzugehen. Wenn man über die Gerichtsreden Wyschinskis aus welcher Position auch immer urteilt, muß man erst einmal darüber nachdenken, bevor man juristische Überlegungen anstellt. Wie richtig die gerichtlichen Verurteilungen waren, beweisen insbesondere die ab 1953 nach Stalins Tod von Chruschtschow eingeleiteten Rehabilitierungen. In einer großen Zahl von Fällen erwiesen sich die Überlebenden der Säuberungen und teilweise deren Kinder als die fanatischsten Konterrevolutionäre, die sich samt und sonders das Lebensziel setzten, den Kommunismus zu zerschlagen. Auch bei den postmortem Rehabilitierten stellte sich bei nachträglicher Prüfung vielfach heraus, daß sie keineswegs unschuldig verurteilt worden waren. So waren Leute wie beispielsweise Swanidse, Kabakow und Jakir, die oft als unschuldige Stalinopfer vermarktet werden, eingefleischte Volksfeinde. Viele der in Rußland nach 1990 veröffentlichten Bücher belegen das.

Die sogenannte Große Säuberung hatte zweifellos zur Zerschlagung der Fünften Kolonnen in der UdSSR geführt, wenn man auch von einem Sieg über die vorbereitete Konterrevolution genaugenommen erst ab Anfang 1939 sprechen kann. Sicherlich steht auch fest, daß die konterrevolutionären Strukturen nicht in allen Verästelungen zerschlagen werden konnten. Viele Feinde der Sowjetmacht konnten rechtzeitig untertauchen oder wurden nicht enttarnt. Sie erhoben dann nach dem Tode Stalins als verräterische Chruschtschowisten wieder ihr Haupt. Es reichte aber aus, damit das Sowjetvolk im Wesentlichen frei von inneren Feinden dem Ansturm der Hitlerfaschisten im Großen Vaterländischen Krieg standhalten und den Sieg erringen konnte.

Es muß aber darauf hingewiesen werden, daß es auch weiterhin Verräter gab. Sowjetische Offiziere, und das waren sehr oft 1937 - 1938 verhaftete und später rehabilitierte Offiziere, liefen im Kriege zu den Faschisten über und dienten sogar in der Wlassow-Armee. Es gibt deswegen bis heute Meinungen, daß die Maßnahmen der Großen Säuberung (das war wie gesagt nicht die offizielle Bezeichnung), zu früh an Intensität einbüßten, was dann u.a. auch ein Überleben von getarnten Trotzkisten wie Chruschtschow und vieler Bucharinisten ermöglichte.

Wie richtig der Kampf gegen den Trotzkismus und Bucharinismus war, zeigte schließlich die Entwicklung der UdSSR und des Sozialistischen Lagers nach Stalins Tod, angefangen beim Revionismus von Chruschtschow und endend im Zusammenbruch des Sozialismus in Europa unter Gorbatschow und Jelzin."125)

Der bereits mehrfach erwähnte ehemalige US-Botschafter in der UdSSR, Joseph E. Davies, hatte die Zeit der Prozesse in der UdSSR erlebt und hat seine Eindrücke in seinen Erinnerungen niedergeschrieben. Drei Tage nach dem Einmarsch der faschistischen Wehrmacht in die UdSSR habe er eine Rede vor dem Universitätsklub in Chikago gehalten. Von einem Zuhörer sei er gefragt worden, wie es mit der Fünften Kolonne in Rußland stünde. „Ohne Bedenken" habe er geantwortet: „Gibt es nicht. Alle erschossen."126)

Nun war dies allerdings übertrieben. Davies konnte nicht wissen, daß es noch immer Trotzkisten in der Armee und den Sicherheitsorganen gab, die sich zu tarnen verstanden. Große Aktionen konnten sie auf Grund ihrer Schwäche durch die Prozesse jedoch nicht mehr unternehmen.

In den USA und in Südamerika seien nach Davies erst in den letzten beiden Jahren (also 1940 - 1941, UH) die Umtriebe deutscher Organisationen aufgedeckt worden.

„Solches Treiben und derartige Methoden gab es offenbar in Rußland als Teil des deutschen Anschlags gegen die Sowjets schon 1935. Die Sowjetregierung war wie sich jetzt zeigt, bereits damals scharf aufmerksam auf die Pläne der deutschen hohen militärischen und politischen Kommandostellen und auf die ‘innere Arbeit’ in Rußland, die der Vorbereitung des deutschen Angriffs auf das Land diente.

Während ich über diese Konstellation nachgrübelte, sah ich plötzlich das Bild so vor mir, wie ich es damals hätte sehen sollen. Die Geschichte war in den sogenannten Landesverrats- oder Säuberungsprozessen von 1937 und 1938 dargelegt worden, und ich hatte diesen selbst als Zuhörer beigewohnt. Als ich nun von diesem neuen Gesichtswinkel aus die Verhandlungsberichte und meine eigenen Bemerkungen dazu aus jener Zeit wieder durchlas, fand ich, daß so gut wie alle Kniffe und Umtriebe der deutschen Fünften Kolonne, wie wir sie seither nennen, gelernt haben, durch die Geständnisse und Zeugenaussagen jener Prozesse gegen die ‘bekennenden’ Quislinge Rußlands enthüllt und bloßgelegt worden sind.

Es wurde mir klar, daß die Sowjetregierung vom Vorhandensein dieser Umtriebe überzeugt war, sich aufs höchste beunruhigt fühlte und daranging, sie energisch zu unterdrücken. Bis 1941, das heißt bis zum Einfall der Deutschen, hatten sie jede Spur der vorher organisierten Fünften Kolonne ausgelöscht.

Ein anderer Umstand, der seiner Zeit schwierig zu verstehen war, der nun aber, aufgehellt durch die seitherige Entwicklung, eine neue Bedeutung gewinnt, war die Art und Weise, wie die Sowjetregierung 1937 und 1938 gegen die deutschen und italienischen Konsularvertretungen vorging. Es geschah auf rücksichtslose Manier - mit fühlloser und brutaler Mißachtung der Empfindungen, die es bei den betroffenen Ländern auslösen mußte.

Der von der Sowjetregierung angegebene Grund war, diese Konsulate seien in innere, politische und unterirdische Umtriebe verwickelt, weshalb sie geschlossen werden müßten."127)

Bezüglich des Offizierskorps nach der Erschießung von Generälen äußerte Davies gegenüber der vorherrschenden Meinung, wonach „die Liquidation der älteren erfahrenen Generäle die Armee wesentlich geschwächt habe", ...„daß dies zwar bis zu einen gewissen Grade" zuträfe, „aber übertrieben sein dürfte."128)

„Der Offiziersstand hat den Ruf, daß seine jüngeren Kommandeure ausgezeichnet befähigt und daß die höheren Kommandostellen ziemlich gut besetzt sind. Auch sie sind durchschnittlich noch jüngere Leute."129) Davies schließt diese Einschätzung der „vorwaltende(n) Meinung" mit der Bemerkung, „daß, die Rote Armee der kommunistischen Partei, und darum Stalin, treu ergeben ist."130)

Es ist wohl gerade dieser Sachverhalt, der den Verkündern der These von der „Enthauptung" der Roten Armee so mißfällt. Aber es kommt von Davies noch „schlimmer!". Die Stärke des „herrschenden Regimes" in der Sowjetunion beruhte nach ihm „auf der kühnen und klugen Führerschaft Stalins." Sein Regime sei „fest verwurzelt."131)

In einem ausführlichen Bericht über die UdSSR an den Staatssekretär für äußere Angelegenheiten der USA vom Juni 1938 faßte Davies zusammen:

„Die militärische Stärke der UdSSR ist imposant. Sowohl der Qualität als der Zahl nach sind die Truppen ausgezeichnet. Die stehende Armee von etwa 1.500.000 Mann ist in zwei selbständige Einheiten eingeteilt, eine im Westen und eine im Osten; die erstere macht etwa 70 %, die letztere rund 30 % aus. Sie ist mit Gewehren gut ausgestattet, gut diszipliniert und auf fanatische Hingabe an den Kommunismus trainiert. Ihre mechanisierten Einheiten sind sehr gut. Die Bemannung der Luftwaffe ist vortrefflich, ihre Ausrüstung gut, was Jagdflugzeuge, aber geringwertig, was Bomber betrifft. Zahlenmäßig ist die Luftwaffe wahrscheinlich die stärkste unter denen der Großmächte. In der technischen Ausrüstung der Luftwaffe ist die Sowjetunion hinter den Westmächten vermutlich um zwei bis drei Jahre zurück.

Die Regierung glaubt mit größter Zuversicht, daß sie imstande wäre, einem gleichzeitigen Angriff von Deutschland und Japan erfolgreichen Widerstand zu leisten.

Es müßte außerordentlich schwierig sein, alle diese Kräfte zu besiegen oder gar zu vernichten, mit dem Verbündeten, den sie am russischen Winter besitzen.

Die Schwäche liegt vielleicht in der zweiten Verteidigungslinie - ich meine die Industrieproduktion hinter der Front und die Versorgung mit hochwertigen Petroleumprodukten."132)

Zum Schluß sei noch die Einschätzung der Prozesse durch Winston Churchill dokumentiert, der zu den ärgsten Feinden des Kommunismus gehörte, aber sich von anderen dadurch unterschied, daß er zu realistischen Einschätzungen der Sowjetunion und der Persönlichkeit Stalins fähig war, eine Eigenschaft, die auch manchem sich als Kommunist verstehenden Theoretiker abhanden gekommen ist.

Nach Churchill habe Benesch den „beunruhigenden Wink" erhalten, „daß über die sowjetrussische Gesandtschaft in Prag Nachrichten zwischen hochgestellten Persönlichkeiten in Rußland und der deutschen Regierung ausgetauscht wurden. Dies war ein Teil der sogenannten Verschwörung der Militärs und der Kommunisten der alten Garde, die Stalin stürzen und ein neues, auf deutschfreundlicher Politik beruhendes Regime einführen wollte... Darauf folgte die unbarmherzige, aber vielleicht nicht unnötige militärische und politische Säuberungsaktion in Sowjetrußland und dieselbe von Prozessen im Januar 1937, bei denen Wyschinski als Staatsanwalt eine dominierende Rolle spielte."133)

Es geht hier nicht darum, daß es in Churchills Erinnerungen bezüglich der Vorgänge in der UdSSR 1935 bis 1938 offene Fragen gibt, vor allem bezüglich des tschechischen Präsidenten Benesch und der Rolle der Gestapo - die vermutlich nie völlig geklärt werden können - sondern um die Bestätigung der - bei Churchill! - „sogenannten" Verschwörung. Deren Existenz konnte er nicht bestreiten; die Notwendigkeit der „Säuberungsaktion" hat er zumindest nicht in Frage gestellt, wobei zu berücksichtigen ist, daß Churchill eben nicht gerade ein Freund der Sowjetunion war.

Lion Feuchtwanger schrieb in seinem Buch „Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde." über die „Trotzkistenprozesse": „Manche meiner Freunde, sonst nicht unvernünftige Leute, finden diese Prozesse von Anfang bis Ende, nach Inhalt und Form, tragikomisch, barbarisch, unglaubwürdig, ungeheuerlich. Eine ganze Reihe von Männern, die vorher Freunde der Sowjetunion gewesen waren, sind durch diese Prozesse zu ihren Gegnern geworden."134)

Trotzki, Bucharin und ihre Epigonen, die Hearst-Presse, Goebbels-Propaganda, Revisionisten, Renegaten, SPD-Funktionäre, Chruschtschow, Gorbatschow und deren Anhang, die bürgerlichen und reformistischen Medien sorgen bis auf den heutigen Tag dafür, daß durch die Lügen über die Prozesse die kommunistische Bewegung, international und in den einzelnen Ländern, gespalten bleibt.

Die Überwindung dieser Geschichtslügen gegen eine schier unüberwindliche Flut von Verleumdungen, die von den Massenmedien fünfzig Jahre nach dem Tode Stalins noch immer täglich, stündlich verbreitet werden, gehört zu den unverzichtbaren Aufgaben nicht nur marxistisch-leninistischer Historiker, sondern eines jeden ehrlichen Publizisten, der sich der historischen Wahrheit verpflichtet fühlt. Es ist ein Ausdruck der sozialen Angst, die die herrschenden Ausbeuterklassen angesicht der sich ständig vertiefenden politischen Krise des kapitalistischen Systems befällt, daß sie noch immer, wie einst Macbeth vor dem Geiste Banquos, vor dem Geiste Stalins erzittern.

Mystik liegt einem marxistisch-leninistischen Historiker fern, aber daß die Bourgeoisie und ihre Historiographie mit Stalin bis heute nicht fertig geworden sind, ihn nicht „bewältigt" haben, ihn noch immer fürchten, davon zeugen ihre Publikationen.

Anmerkungen (Quellennachweise) zu Teil 1

1) Lenin: Der Zusammenbruch der II. Internationale. In: LW 21/213.

2) MEW 29/252. Siehe Carl von Clausewitz: Vom Kriege. 18. Auflage, hrsg. von Dr. Werner Hahlweg. Bonn 1973. Zweites Buch, 3. Kapitel. S. 303. Im weiteren Hahlweg... genannt.

3) MEW 13/440.

4) MEW 17/170.

5) MEW 21/447.

6) MEW 14/89 und 247 - 249, Fußnote 64.

7) Engels: Die Schlacht bei Inkerman. MEW 10/566.

8) MEW 14/233, siehe auch MEW 13/113.

9) Lenin: Clausewitz’ Werk „Vom Kriege". Auszüge und Randglossen, Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung. Berlin 1957. Diese Schrift ist in der deutschsprachigen Werksausgabe nicht enthalten. Im weiteren „Auszüge..." genannt.

10) Ebd. S. 35. Lenins Auszüge beziehen sich auf die Ausgabe von 1832, die von der Witwe Clausewitz’ herausgegeben wurde. Im wesentlichen stimmt sie mit der von Hahlweg herausgegebenen 18. Auflage und der von Ernst Engelbert und Otto Korfes vom Militärverlag der DDR herausgegebenen, Berlin 1957, überein.

11) Auszüge... S. 15.

12) Ebd. S. 16. Hervorhebung im Original.

13) Ebd. S. 25 f.

14) Ebd. S. 27.

15) Ebd. S. 29 f.

16) Ebd. S. 32.

17) Ebd. S. 35 f.

18) LW 21/212.

19) Lenin, Auszüge... a.a.O., S. 37.

20) Ebd. S. 39.

21) Ebd.

22) Ebd.

23) Ebd. S. 39 f.

24) Ebd. S. 41.

25) Werner Hahlweg: Lenin und Clausewitz. In: Archiv für Kulturgeschichte. Münster und Köln 1954. Bd. XXXVI, Heft l, S. 30 ff. Zitiert nach Carl von Clausewitz. Ausgewählte militärische Schriften. Hrsg. von Gerhard Förster und Dorothea Schmidt unter Mitarbeit von Christa Gudzent. Berlin 1980, S. 40.

26) Lenin: Der Zusammenbruch der II. Internationale, a.a.O. In: LW 21/212.

27) Ebd. Siehe „Auszüge..." S. 35 f.

28) LW 21/213. Hervorhebung im Original.

29) LW 21/304 f.

30) LW 24/396.

31) Ebd. S. 400.

32) Siehe I.B. Berchin: Geschichte der UdSSR 1917-1970. Berlin 1971, S. 98.

33) Ebd.

34) SW 4/24.

35) LW 27/100 und 101.

36) Bershin, a.a.O., S. 101.

37) Ausführlich siehe Deutsche Geschichte in drei Bänden, Bd. 2. Von 1789-1917. Berlin 1965. S. 72 f und 75.

38) LW 27/92.

39) Ebd. S. 175.

40) Ebd. S. 149.

41)Ebd. S. 324. Hervorhebung im Original.

42) Siehe „Die Wahrheit über Stalin. Er führte die Sowjetunion zum großen Sieg." In: Schriftenreihe für marxistisch-leninistische Bildung der Kommunistischen Partei Deutschlands. Heft Nr. 55. Berlin, August 1999. S. 12 f. Im weiteren „Schriftenreihe..." genannt.

42a) SW 15/54 - 58.

42b) Ebd. S. 57.

42c) Ebd. S. 56.

43) Siehe „Stalins Beiträge zur Theorie der nationalen Frage". In: Schriftenreihe... Heft Nr. 86/1, Berlin, Juni 2002.

44) Hahlweg .., a.a.O., S. 951. Hervorhebung im Original.

45) SW 4/100 f.

46) LW 27/534.

47) SW 4/102.

48) Ebd. S. 104 f.

49) Brief an Lenin vom 6. August 1918. In Ebd. S. 106 ff.

50) Ebd. S.111.

51) „Über den Süden Rußlands". Prawda, 30. Oktober 1918. In: Ebd. S. 130. Die Tschechoslowaken waren ursprünglich Kriegsgefangene in Rußland. Sie gehörten der österreichischen k.u.k. Armee an. Der eng-lische Historiker John Keegan schreibt, daß während des Krieges „Publizisten der Entente die Unzuverlässigkeit der slawischen Soldaten Franz Josephs und ihre brüderlichen Gefühle für die gegnerischen Russen" betonten. Sie berichteten ausführlich über die Neigung einiger slawischer - besonders tschechischer und austroserbischer - Truppenverbände, sich zu ergeben. (John Keegan: Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie. Hamburg 200l, S. 225f. So wurden die Tschechen des IX. Korps der k.u.k. Armee „verdächtigt, in großer Zahl zum Feind überzulaufen." (Keegan, S. 243) Nach der Enzyklopädie der UdSSR haben sich diese Tschechoslowaken freiwillig in Kriegsgefangenschaft begeben, um nicht für die Deutschen kämpfen zu müssen, die sie als ihre Feinde betrachteten. (Enzyklopädie der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Bd. l, Berlin 1950. S. 683.) Nach Keegan gab es in der k.u.k. Armee neun Sprachgruppen. 44 % waren Slawen, 28 % Deutsche, 18 % Ungarn, 8 % Rumänen und 2 % Italiener. Ihre Loyalität zum österreichischen Kaiser war sehr unterschiedlich. Die Deutschen, mit 28 % eine Minderheit in der Armee, genossen eine privilegierte Stellung. Dies traf auch zum Teil auf die Ungarn zu. Besonders Tschechen und Serben erwiesen sich als unzuverlässig gegenüber dem Kaiserhaus. „Sobald der Krieg kein kurzes Abenteuer mehr war, wurde die Armee für sie zu einem ‘Gefängnis der Nationen’, in dem die allgegenwärtigen deutschen Vorgesetzten die Gefängniswärter waren." (Keegan, S. 226)

Die Entente hatte noch zur Zeit der Zarenherrschaft auf russischem Boden aus 40.000 tschechischslovakischen Soldaten und Offizieren ein kampfstarkes Korps gebildet und mit Waffen ausgerüstet. Es hatte noch nach dem Sturz des Zaren in der Februarrevolution an der von Kerenski angeordneten Juni-Offensive 1917 teilgenommen. Nach deren Scheitern wurde es aus der Front genommen und in der Ukraine links des Dnepr untergebracht. Die Sowjetregierung hatte den tschechoslowakischen Korps gestattet, das russische Gebiet über Wladiwostok zu verlassen und sich der Entente zur Verfügung zu stellen. Die tschechoslowakischen Verbände zogen darauf längs der Eisenbahnlinie aus dem Bezirk Pensa in die Gebiete jenseits der Wolga, durch den Ural nach Sibirien. Sie wurden während dieser Zeit auf Kosten der Entente unterhalten. Inzwischen waren weißgardistische Offiziere mit ihren Truppen zu ihnen gestoßen, so daß sie auf 60.000 Mann anwuchsen.

Am 25. Mai 1918 begannen die Tschechoslowaken, sich gegen die Sowjetmacht zu wenden. Das tschechoslowakische Korps besetzte Ende Mai 1913 große Gebiete Sibiriens, den Ural sowie das mittlere Wolgagebiet mit den Städten Kasan, Sim-birsk und Samara. Sie besei-tigten die Sowjets, erschossen die Kommunisten und bewaffneten die Großbauern. Generäle und Offiziere der ehemaligen Zaren-Armee, die Trotzki in die Rote Armee eingestellt hatte, liefen zum Teil zu den Tschechoslowaken über. Alle möglichen konterrevolutionären Kräfte, Menschewiki und Sozialrevolutionäre schlossen sich den Tschechoslowaken an, die zu einer starken Macht und somit zu einer ernsten Gefahr für die Sowjetmacht wurden.

52) SW 4/131.

53) Siehe Karte. Enzyklopädie der UdSSR, a.a.O., 1/688. Anhang in Teil 2

54) Siehe Bershin, a.a.O., S. 145.

55) Siehe SW 4/163 - 198.

55a) Ebd.. S. 190.

56) Ebd. S. 163.

57) Ebd. S. 165 - 169.

58) Ebd. S. 375, Fußnote 50.

59) Ebd. S. 170 f.

60) Ebd. S. 172 - 198. Für Interessenten der marxistisch-leninistischen Militärtheorie empfiehlt es sich, den ganzen Bericht zu lesen.

61) Ebd. S. 173.

62) Ebd. S. 174.

63) Ebd. S. 175.

64) Ebd. S. 176 f.

64a) Ebd. S. 177 f.

65) Ebd. S. 180 f.

66) Ebd. S. 181 f.

67) Ebd. S. 182 f.

68) Ebd. S. 186 f.

69) Ebd. S. 187 - 195.

70) Ebd. S. 190 f. „Iswestija WZIK" (Nachrichten des Allrussischen ZEK) Tageszeitung, die seit dem 28. Februar 1917 unter dem Namen „Nachrichten des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten" erschien. Nach mehreren Veränderungen wurde diese Zeitung am 27. Oktober 1917 das offizielle Organ der Sowjetmacht. SW 4/375 f., Fußnote 54.

71) SW 4/194 f.

72) Bershin, a.a.O., S. 145.

73) Siehe Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion in sechs Bänden. Bd. III/2, Moskau 1966/Berlin 197l, S. 189. Im weiteren GKPdSU 6 genannt.

Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Moskau 1959/Berlin 1960, S. 381.

Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Moskau 1969/ Berlin 197l, S. 336.

74) SW 4/180.

75) Ebd. S. 220,

76) GKPdSU 6, III/2, S. 292.

77) Ebd. S. 292 f.

78) Ebd. S. 295 f.

79) Ebd. S. 294,

80) SW 4/220 f.

81) Die Kommunistische Partei der Sowjetunion in Resolutionen und Beschlüssen der Parteitage, Konferenzen und Plenen des ZK. Berlin 1957. Bd. III, S. 25f. Im weiteren KPdSU R.u.B. genannt.

82) Ebd.

83) Ebd. S. 26.

84) Ebd. S. 27.

85) Ebd. S. 143.

86) Ebd. S. 144.

87) Siehe Berchin, a.a.O., S. 160 f.

88) Das genaue Datum des Fernspruchs war nicht zu ermitteln. Aus dem Telegramm Lenins an Stalin vom 20. Mai kann geschlossen werden, daß Stalins Fernspruch vor diesem Datum erfolgt war, nicht vom 25. Mai. LW 29/374.

89) SW 4/229 f.

90) LW 29/374.

91) SW 4/231.

92) LW 29/391.

93) SW 4/232.

94) Berchin, a.a.O., S. 165.

95) SW 4/232.

96) Ebd.

96a) Zu Wazetis siehe Hans-Jürgen Falkenhagen: Leo Trotzki und das Wesen des Trotzkismus. Teil I, Schriftenreihe, a.a.O., Heft Nr. 96/1, Berlin Februar 2003, S. 3l, 33 - 38, 43 f.

97) Bershin, a.a.O., S. 844 f. Fußnote 45.

98) SW 4/232 f.

99) Ebd. S. 233.

100) Ebd.

101) Ebd. S. 236 und 237.

102) LW 35/365.

103) Ebd. S. 567, Fußnote 255.

104) Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) (Kurzer Lehrgang), Berlin 1946. S. 287. Im weiteren „Kurzer Lehrgang" genannt.

104a) SW 4/243 - 245. Über das Datum bestehen Unklarheiten. In den Akten des ZPA des IML, Fond 2, Liste l, Dok. 11 168, B I I und Rückseite wird als Datum der 15. September angegeben. Dies kann nicht stimmen, da Stalin erst am 3. Oktober in Serpuchow eintraf. Ein anderes Datum wird mit 15. November als „richtig" angegeben. Siehe GKPdSU 6, Bd. III/2, S. 390 Fußnote 133.

105) SW 4/244. Hervorhebung im Original.

106) Ebd. S. 244 f.

107) Ebd. S. 246.

108) Ebd. S. 250 - 257.

109) Ebd. S. 250 f.

110) Ebd. S. 254 f. Hervorhebung im Original.

111) Ebd. S. 255 f.

112) Siehe Bershin, a.a.O., S. 179.

112a) Winston S. Churchill: Der Zweite Weltkrieg. Berlin - München - Wien, Neuauflage 1989, S. 185.

113) Bershin, a.a.O., S. 179 f. Siehe auch GKPdSU 6, Bd. III/2, S. 511 ff.

114) SW 4/282 - 289.

115) Ebd. S. 286.

116) Ebd. S. 286 f. Hervorhebungen im Original.

117) Ebd. S. 287.

118) Ebd. S. 288.

119) Ebd. S. 291.

120) Siehe Berchin, a.a.O., S. 181 und 845, Fußnote 58.

121) LW 31/294.

122) Ebd. S. 296 f.

123) SW 4/293.

124) Ebd. S. 294.

125) Ebd. S. 295.

126) Ebd. S. 296 - 300.

127) Ebd. S. 297.

128) Ebd. S. 298 f.

129) Ebd. S. 299. Hervorhebung im Original.

130) Ebd.

131) Ebd. S. 303.

132) Ebd. S. 385. Fußnote 102. Hervorhebung im Original.

132a) Falkenhagen, a.a.O., S. 50 f.

133) SW 4/305 - 308.

134) Ebd. S. 306 f.

135)Ebd. S. 307. Hervorhebung im Original.

136) Ebd. S. 308. Hervorhebung im Original.

137) Ebd.

138) LW 32/171.

139) RotFuchs, 5. Jahrgang, Nr. 51, April 2002, S. 19.

140) SW 4/360.

141) Ebd.

142) Ebd. S. 360 - 362.

143) SW 5/141 - 158.

144) Ebd. S. 144.

145) Ebd. S. 146.

145a) Carl von Clausewitz: Vom Kriege, Erster Teil, Erstes Buch. l. Kapitel. Jubiläumsausgabe Januar 2003. Nach der ersten Auflage von 1832 und zweiten Auflage 1853, München 2003. S. 92.

145b) Ebd. S. 93.

146) SW 5/146.

147) Ebd. 147 f. Zu Strategie und Taktik siehe auch Kleines Politisches Wörterbuch. 3. überarbeitete Auflage. Dietz Verlag. Berlin 1978. S. 888 f.

 

Anmerkungen (Quellennachweise) zu Teil 2

1) LW 31/498.

2) Ebd. S. 471 f.

3) Versailler Vertrag: von 27 alliierten u. assoziierten Mächten im Spiegelsaal zu Versailles mit Dtschl. abgeschlossener impe-rialist. Gewaltfriede (18.1.1919 Beginn der Verhandlungen); beendete den l. Weltkrieg u. wurde am 22. 6. 1919 von der dt. Nationalversammlung angenommen (mit Vorbehalt). Dieses Friedensdiktat konnte Dtschl. infolge der Niederlage der Arbeiterklasse in der Novemberrevolution aufgezwungen werden; es verschärfte die nationale Frage, indem es das dt. Volk der doppelten Ausbeutung durch die dt. u. die Entente-Imperialisten unterwarf, die Souveränität Dtschl.s beschnitt, zugleich aber die Machtgrundlagen des dt. Imperialismus u. Militarismus bestehen ließ. Es sollte den imperialist. Siegerstaaten territoriale u. ökonom. Vorteile sichern, die dt. Konkurrenz auf dem Weltmarkt zurückdrängen u. den dt. Militarismus als potentielle Kraft gegen die Sowjetmacht erhalten. Dieser Vertrag, der auch ein Ergebnis des antisowjet. Kurses des dt. Monopolkapitals war, trug den Keim eines neuen Krieges in sich. Wichtigste Bestimmungen (insgesamt 15 Teile mit 440 Artikeln): Gebietsabtretungen Dtschl.s an Polen, Frankreich, Belgien, die Tschechoslowakei, Litauen u. Dänemark. Abtretung aller Kolonien (als Völkerbundsmandate unter die Siegermächte aufgeteilt); insgesamt verlor Dtschl. 73.485 km2 Land mit 7,325 Mill. Ew. Bis 1935 alliierte Verwaltung des Saargebietes (nach Volksabstimmung an Dtschl. zurück), dessen Kohlengruben an Frankreich fielen, u. Besetzung des linken Rheinufers mit den Brückenköpfen Köln, Koblenz, Mainz auf zunächst 15 Jahre (nach Annahme des Youngplans 1930 vorfristig geräumt); Schaffung entmilitarisierter Zonen (linkes Rheinufer, rechtes Rheinufer in einem 50 km breiten Streifen; 1936 Einmarsch der Wehrmacht). Abschaffung der allg. Wehrpflicht (1935 durch Hitler wieder eingeführt), Waffeneinfuhr- u. Waffenausfuhrverbot, Beschränkung des Landheeres auf 100.000 Mann, der Marine auf 15.000 Mann (keine Luft- u. größeren Seestreitkräfte), Verbot der schweren Waffen; wirtschaftl. Sachleistungen (Vieh, Erze, Kohle, Handelsflotte u.a.). Internationalisierung der dt. Ströme, Reparationen, Anerkennung der alleinigen Kriegsschuld; Auslieferung der dt. Kriegsverbrecher (nicht erfolgt). Der V.V. diente dem dt. Monopolkapital u. seinen polit. Organen, insbes. aber den Faschisten, zur Entfachung von Chauvinismus u. Revanchismus. - Die Sowjetunion leitete keine Forderungen aus dem V.V. ab. Als einzige Partei in Dtschl. vertrat die KPD die nationalen Interessen des dt. Volkes gegen den V.V..Weltgeschichte. Kleine Enzyklopädie. Bd. 2, Leipzig, 1979, S. 531 f.

4) Dr. Fritz Klein: Die diplomatischen Beziehungen Deutschlands zur Sowjetunion. 1917 - 1932. Berlin 1952. S. 91.

5) Herbert v. Dirksen: Moskau - Tokio - London. Stuttgart 1949, S. 82 f.

Zitiert nach Klein, a.a.O., S. 99.

6) Der Rapallovertrag wurde am Rande der Weltwirtschaftskonferenz in Genua auf Initiative Sowjetrußlands von G.W. Tschitscherin und Walter Rathenau unterzeichnet. Die übrigen Sowjetrepubliken traten am 15. November 1922 dem Vertrag bei. Er beinhaltete die Herstellung normaler wirtschaftlicher und politischer Beziehungen zwischen beiden Ländern. Sowjetrußland verzichtete auf Kriegsentschädigungen. Beide Vertragspartner sicherten sich gegenseitig Meistbegünstigung in ihren Wirtschaftsbeziehungen zu. Der Vertrag löste Deutschland aus der internationalen Isolierung und vereitelte den Plan der Ententemächte, eine einheitliche Front gegen Sowjetrußland zu errichten. Siehe Weltgeschichte, a.a.O., Bd. 2, S. 523 f.

7) LW 33/199., Hervorhebung im Original.

8) Ebd.

9) Ebd. S. 200 - 203.

10) Ebd. S. 342 f. Hervorhebung im Original.

11) Auf der Londoner Konferenz der imperialistischen Siegermächte versuchten diese ihre Widersprüche auf Kosten Deutschlands und der Sowjetunion zu lösen. Die Reparationszahlungen Deutschlands wurden von einem Sachverständigenausschuß unter dem Vorsitz des Direktors der Morgan-Bank in Chicago, Charles Gates Dawes, neu festgelegt. Das Ziel bestand darin, über die Reparationszahlungen Deutschlands an Frankreich dieses zu befähigen, seine Kriegsschulden an England, und dieses wiederum seine Kriegsschulden an die USA zurückzuzahlen. Deutschland sollte seinen Export in die UdSSR verstärken, um dessen Gewinn in die Reparationszahlungen einfließen zu lassen. Beschränkungen der Rüstungsindustrie wurden gelockert, um eine beschleunigte Wiederherstellung des Militärpotentials des deutschen Imperialismus zu ermöglichen. Siehe Sachwörterbuch der Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. l. Berlin 1969. S. 367 f.

12) Stanley Baldwin. Britischer Ministerpräsident von Mai 1923 - Januar 1924 und von November 1924 - Juni 1929.

13) Geschichte der Diplomatie, hrsg. von W.R. Potjomkin. Berlin 1948. Bd. III, S. 336. Zitiert nach Klein, a.a.O., S. 134.

14) SW 6/251 - 269.

15) Ebd. S. 251 f.

16) Am 11. Januar 1923 besetzten französische und belgische Truppen in Stärke von 5 Divisionen das Ruhrgebiet. Damit wollten die französischen Imperialisten die politische und ökonomische Hegemonie über Europa gewinnen und Deutschland zur völligen Unterwerfung zwingen. Die Londoner Konferenz erzwang die Räumung des Ruhrgebietes bis zum 31. Juli 1925. Die Ruhrbesetzung erwies sich somit als eine Niederlage des französischen Imperialismus. Siehe Sachwörterbuch der Geschichte Deutschlands... a.a.O., Bd. 2, Berlin 1970, S. 428 - 429.

17) SW 6/252.

18) Ebd. S. 253.

19) Ebd.

20) Ebd. S. 255 f.

21) Die Rote Fahne, 5. Februar 1925, Zitiert nach Klein, a.a.O., S. 133 f. Dieser Interview ist in der Stalin-Werksausgabe nicht enthalten.

22) SW 6/260 f.

23) Siehe Sachwörterbuch der Geschichte... a.a.O. Bd. 2, S. 42 f.

24) Gustav Stresemann: Vermächtnis. Nachlaß in drei Bänden, hrsg. von Henry Bernhard, Berlin 1932/33. Bd. II, S. 95. Zitiert nach Klein, a.a.O., S. 138.

25) Siehe Sachwörterbuch der Geschichte... a.a.O., Bd. l, S. 264f.

26) „Osteuropa", Zeitschrift für die gesamten Fragen des europäischen Ostens, hrsg. von Hoetzsch, Königsberg und Berlin. Jg. 1926/27, S. 48 f. Zitiert nach Klein, a.a.O., S. 152.

27) Siehe Klein, a.a.O., S. 148 f.

28) Stresemann, Vermächtnis, nach Klein, a.a.O., S. 158.

29) Die Ostwirtschaft. Monatszeitschrift des Deutsch-Russischen Vereins, später des Rußland-ausschusses der deutschen Wirtschaft Berlin. Jg. 1928/29, S. 131 f. Zitiert nach Klein, a.a.O., S. 159.

30) Klein, a.a.O., S. 160.

31) Dirksen, a.a.O., S. 104. Zitiert nach Klein, a.a.O., S. 161.

32) Zitiert nach Klein, a.a.O., S. 180.

33) SW 9/278 - 312.

34) Ebd. S. 278.

35) Ebd. S. 279.

36) Ebd. S. 280.

37) Ebd. S. 281. Die chinesische Polizei führte zur gleichen Zeit auch Anschläge auf die sowjetischen Konsulate in Schanghai und Tientsin. In Kanton wurden Mitarbeiter der sowjetischen diplomatischen Mission ermordet. Siehe I.B. Berchin, a.a.O., S. 319.

38) SW 9/281.

39) SW 9/282

40) KPdSU in R. u. B. a.a.O., Bd. VI. S. 228. Siehe Anhang, Dokumente 2.

41) SW 9/283.

42) Ebd. S. 284.

43) SW 10/332, Fußnote 23.

44) Ebd. S. 40.

45) Ebd.

46) Ebd. S. 41.

47) Ebd.

48) Ebd. S. 43.

49) Ebd. S. 44.

50) Ebd.

51) SW 10/235 - 244.

52) Ebd. S. 236.

53) Ebd. S. 237 f.

54) Ebd. S. 238,

55) Ebd. S. 240.

56) Ebd. S. 241.

57) Eine in Garden City (Staat New York) von 1899 bis 1932 erschienene Zeitschrift, die die Ansichten der herrschenden Kreise der Großbourgeoisie zum Ausdruck brachte. Ebd. S. 339, Fußnote 73.

58) Ebd. S. 241

58a) Dem Völkerbund gehörten zeitweilig 55 Staaten an. Er löste sich am 18. September 1946 auf; nach der Gründung der Vereinten Nationen (UNO) am 24. Oktober 1945 war der Völkerbund gegenstandslos geworden.

59) SW 10/242.

60) Ebd. S. 243.

61) Ebd.

62) Ebd. S. 244.

63) Ebd. S. 250 f.

64) SW 11/178.

65) Ebd.

66) Ebd.

67) Ebd. S. 179.

68) SW 12/155 f.

69) Virginia Cowles (US-amerikanische Journalistin): Winston Churchill. Der Mann und seine Zeit. Wien/München/Basel, 1954, S. 266. Zitiert nach Wladimir G. Truchanowski: Winston Churchill. Eine politische Biographie. Moskau 1968. Deutsche Übersetzung Köln 1987. S. 170.

70) LW 31/314.

71) Ebd. S. 315.

71a) I.M. Maiski: Memoiren eines sowjetischen Botschafters. Moskau 1964 und 1965. Berlin 1967, S. 408.

72) Winston S. Churchill: Der Zweite Weltkrieg. Berlin München, Wien. Neuauflage 1989, S. 156.

72a) Maiski, a.a.O., S. 412.

72b) Ebd. S. 413.

73) Churchill, a.a.O., S. 85.

74) Ebd.

75) Ebd. S. 156.

76) Ebd. S. 157.

76a) Maiski, a.a.O., S. 420 f.

77) Churchill, a.a.O., S. 181.

78) Ebd. S. 185.

79) Ebd. Hervorhebung von mir.

80) Ebd. S. 187.

80a) Joseph E. Dawies: Als USA-Botschafter in Moskau. Authentische und vertrauliche Berichte über die Sowjetunion bis Oktober 1941. Zürich 1941, S. 352 f.

81) Kurt Gossweiler; Betrachtungen zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939. In: Kurt Gossweiler: Wider den Revisionismus. Aufsätze, Vorträge, Briefe aus sechs Jahrzehnten. München 1997. S. 182. Es empfiehlt sich, diese „Betrachtungen..." als Ganzschrift zu lesen. S. 157 - 191.

82) Ebd. S. 183.

83) Der Antikominternpakt wurde am 25. November 1936 zwischen Deutschland und Japan geschlossen. Er war gegen die Sowjetunion, die Kommunistische Internationale, gegen demokratische Bewegungen gerichtet.

Über den Antikominternpakt strebten Deutschland und Japan die Eroberung der Weltherrschaft an. Sie bereiteten mit wohlwollender Unterstützung der großen „Demokratien" ihren Aggressionskrieg vor. Die „Demokratien" hofften, die Antikominternstaaten gegen die UdSSR lenken zu können. Italien schloß sich am 6. November 1937 dem Anti-kominternpakt an, im Februar 1939 folgten Ungarn und Mandschuko, im März 1939 Francospanien, im November 1941 die faschistischen Regimes Bulgariens, Finnlands und Rumäniens. Die von der faschistischen Wehrmacht besetzten Länder Dänemark, Kroatien und die Slowakei wurden von der deutschen Regierung ebenfalls dem Antikom-internpakt „beigetreten".

84) G.K. Shukow: Erinnerungen und Gedanken. Bd. 1/4. Überarbeitete Auflage, Moskau 1969. Berlin 1973. S. 210 - 213. Die Karte über die Kampfhandlungen sind dem gleichen Band entnommen. Anhang, Dokument 2.

84a) Siehe K.A. Merezkow: Im Dienste des Volkes. Moskau 1968, Berlin 1972, S. 189.

85) SW 13/259 f. Hervorhebung im Original.

86) Ebd. S. 260.

87) Ebd. S. 268.

88) Ebd. S. 269.

89) Ebd.

90) Ebd.

91) Ebd. S. 270. Hervorhebung von mir.

92) Ebd. 272.

93) SW 14/180 - 235.

94) Ebd. S. 180.

95) Ebd. S. 184.

96) Gemeint ist der Vertrag, der auf der Washingtoner Konferenz (12. November 1921 - 6. Februar 1922) von allen Pazifikmächten - außer Sowjetrußland - abgeschlossen wurde. Der Vertrag sollte die Einflußsphären der imperialistischen Mächte, besonders zwischen den USA und Japan, festlegen. China und Sowjetrußland waren zur Washingtoner Konferenz nicht eingeladen. Zu den Verhandlungen zum Neunmächtevertrag durfte China am Katzentisch teilnehmen. Die Washingtoner Konferenz, einschließlich des Neunmächtevertrages, hatte eine antisowjetische und antichinesische Stoßrichtung.

96a) SW 14/185.

97) Ebd. S. 188.

98) Ebd. S. 189.

99) Ebd. S. 190.

100) SW 15/331.

101) Siehe Politische Ökonomie und ihre Anwendung in der DDR/ l. Auflage; Berlin 1969, S. 237.

101a) MEW 20/154 f. Hervorhebung im Original.

102) SW 13/36. Über die vom Zarismus ererbte ökonomische Rückständigkeit und den opferreichen Kampf um ihre Überwindung siehe auch Ulrich Huar: Stalin als Theoretiker des Marxismus-Leninismus. Beiträge zur Politischen Ökonomie des Sozialismus. Zum 50. Todestag Stalins am 5. März 2003, Teil II, Heft l und 2. Schriftenreihe... Heft Nr. 86 II - l und II - 2, Berlin August 2002 oder in „Offensiv", Zeitschrift für Sozialismus und Frieden. Heft 8/02, gleicher Titel.

103) „offensiv", a.a.O., Heft 8/2000, Ausgabe November/Dezember, S. 32 - 38.

104) Ebd. S. 33.

105) Ebd. Siehe Ilja Ehrenburg: Menschen, Jahre, Leben. Memoiren. Bd. II. Drittes Buch, Moskau 1956 - 1967, Berlin 1978, S. 235.

106) Florath, a.a.O., S. 34.

107) Ebd. S. 34 f.

108) Dmitri Wolkogonow: Triumpf und Tragödie. Politisches Porträt des J.W. Stalin. In zwei Bänden. Bd. 2/1. 1. Auflage, Berlin 1990. S. 58 f.

109) Ebd. S. 59.

110) Ebd. S. 58.

111) Siehe Shukow, a.a.O., S. 186 f.

112) Siehe: Am Himmel über China. 1937-1940. Erinnerungen sowjetischer Flieger. 1. Auflage, Moskau 1980/Berlin 1986.

113) Joseph E. Davies, a.a.O., S. 114.

114) Ebd. S. 153.

115) Ebd. S. 235.

116) Ebd. S. 255.

117) Siehe hierzu Hans Wauer/Hans-Jürgen Falkenhagen: Nikolai Bucharin: Revisionist, Renegat, Verräter, drei Teile. In: Schriftenreihe... a.a.O., Heft Nr. 71/1, 71/11, 71/III. Berlin, Januar 2001. - Hans Jürgen Falkenhagen: Leo Trotzki und das Wesen des Trotzkismus, zwei Teile. In: Schriftenreihe... Heft Nr. 96/I/, 96/II. Berlin, Februar 2003.- Ulrich Huar: Stalin als Theoretiker des Marxismus-Leninismus. Beiträge zur Parteitheorie. Zum 50. Todestag Stalins an 5. März 2003, Heft Nr. 86/III/1 und III/2. Berlin Januar 2003. oder in „Offensiv", a.a.O., Nr. 3/03 Heft I und II.

118) Siehe Kurt Gossweiler: Die Überwindung des Anti-Stalinismus - eine wichtige Voraussetzung für die Wiederherstellung der kommunistischen Bewegung zu einer einheitlichen marxistisch-leninistischen Bewegung. In: Wider den Revisionismus, a.a.O., S.233 - 245. Georgi Dimitroff. Tagebücher 1933-1943. hrsg. von Bernhard H. Bayerlain. l. Auflage. Berlin 2000. S. 136 f, 140, 145, 148, 161, 165 f, 225 f, 240.

119) „Offensiv", Heft 7/2002, Ausgabe Juli-August 2002, S. 57 - 70.

120) Andrea Schön bezieht sich auf einen Artikel von Mario Sousa, Mitglied der schwedischen KPKL(r): Lies concerning the history of the Soviet Union. (Lügen bezüglich der Geschichte der Sowjetunion) In: Pro-letären (Schweden) April 1998.

121) Andrea Schön, S. 65 f.

122) Ebd. S. 66 f.

123):

Jahr Arbeitslager politische Gefangene Anteil in % Gestorben Anteil in %

1934 510.307 135.190 26,5 26.295 5,2

1935 725.438 118.256 16.3 28.328 3.9

1936 839.406 105.849 12.6 20.595 2,5

1937 820.881 104.826 12,8 25.376 3,1

1938 996.367 185.324 18.6 90.546 9.1

1939 1.317.195 454.432 34.5 50.502 3,8

1940 1.344.408 444.999 33,1 46.665 3,5

1941 1.500.524 420.293 28,7 100.997 6,7

1942 1.415.596 407.988 29.6 248.877 18.0

1943 983.974 345.397 35,6 166.967 17,0

1944 663,594 268.867 40.7 60.948 9,2

1945 715.506 283.351 41,2 43.848 6.1

1946 600.897 333.833 59.2 18.154 3.0

1947 808.839 427.653 54,3 35.668 4,4

1948 1.108.057 416.156 38,0 27.605 2,5

1949 1.216.361 420.696 34,9 15.739 1.3

1950 1.416.300 578.912 22,7 14.703 1,0

1951 1.533.767 475.976 31,0 15.587 1,0

1952 1.711.202 480.766 28,1 10.604 0,6

1953 1.727.970 465.256 26.9 5.825 0,3

 

Jahr vorzeitig Entlassene Entkommene Arbeitskolonien Gefängnisse Gefangene insg.

1935 211.035 67.493 240.259 965.697

1936 369.544 58.313 457.088 1.296.494

1937 364.437 58.264 375.488 1.196.369

1938 279.966 32.033 885.203 1.881.570

1939 223.622 12.333 355.243 350.538 2.022.976

1940 316.825 11.813 315.584 190.266 1.850.258

1941 624.276 10.592 429.205 487.739 2.417.468

1942 509.538 11.822 360.447 277.992 2.054.035

1943 336.135 6.242 500.208 235.313 1.719.495

1944 152.113 3.586 516.225 155.213 1.335.032

1945 336.750 2.196 745.171 279.969 1.740.646

1946 115.700 2.642 956.224 261.500 1.818.621

1947 194.886 3.779 912.794 306.163 2.027.796

1948 261.148 4.261 1.091.478 275.850 2.475.385

1949 178.449 2.583 1.140.324 2.356.685

1950 216.210 2.577 1.145.051 2.561.351

1951 254.269 2.318 994.379 2.528.146

1952 329.446 1.253 793.312 2.504.514

1953 937.352 785 740.554 2.468.524

Quelle: „Custodial Population 1934-1953" (Bevölkerung in Gewahrsam in der UdSSR 1934-1953), The American Historical Review

124) Wauer/Falkenhagen, a.a.O., Teil III. S. 37 - 62.

125) Ebd. S. 58 - 61.

126) Davies, a.a.O., S. 210.

127) Ebd. S. 210 f.

128)Ebd. S. 318.

129) Ebd.

130) Ebd.

131) Ebd. S. 324

132)Ebd.

133) Winston S. Churchill, a.a.O., S. 150.

134) Lion Feuchtwanger: Moskau 1937. 2. Auflage. Berlin 1993, S. 86 f.

 

Anhang: Vereinigtes Plenum des ZK und der ZKK der KPDSU (B), 29.7. – 9.8.1927

Informatorische Mitteilung

Vom 29. Juli bis 9. August d.J. tagte das vereinigte Plenum des ZK und der ZKK der KPdSU(B) unter Teilnahme der Mitglieder der Zentralen Revisionskommission. Das Plenum behandelte eine Reihe sehr wichtiger Fragen der internationalen Politik, des wirtschaftlichen Aufbaus und des innerparteilichen Lebens, insbesondere:

1. Die internationale Lage.

2. Die Kontrollziffern der Volkswirtschaft für das Jahr 1927/28.

3. Bericht der Arbeiter- und Bauerninspektion über die Rationalisierung des Staats- und Wirtschaftsapparates und das Sparsamkeitsregime.

4. Die neuesten Aktionen der Opposition und die Verletzung der Parteidisziplin durch Sinowjew und Trotzki.

5. Den Parteitag.

Es wurden folgende Resolutionen angenommen:

Resolutionen des Plenums über die internationale Lage

(Resolution des vereinigten Plenums des ZK und der ZKK, angenommen am 9. August 1927)

I. Die internationale Lage und die UdSSR

1. Die gegenwärtige internationale Lage ist in erster Linie durch die äußerst gespannten Beziehungen zwischen dem imperialistischen England und der proletarischen UdSSR einerseits und durch die militärische Intervention des Imperialismus in China andererseits gekennzeichnet. Die Gefahr eines konterrevolutionären Krieges gegen die UdSSR ist das brennendste Problem der gegenwärtigen Periode. Die Verschärfung der Gegensätze zwischen der UdSSR und ihrer kapitalistischen Umkreisung ist die Haupttendenz der gegenwärtigen Periode, was selbstverständlich diese oder jene Phase einer gewissen Besserung der Beziehungen an dieser oder jener Kampffront nicht ausschließt.

2. Dieser Verschärfung liegt die Tatsache der Festigung des Kapitalismus - sowohl auf rein wirtschaftlichem als auch auf politischen Gebiet - in dem durch den Krieg außerordentlich zerrütteten Europa sowie in Japan und in den Vereinigten Staaten zugrunde. Gleichzeitig wachsen die Erfolge des revolutionären sozialistischen Aufbaus in der UdSSR, entfaltet sich die Volksrevolution in China, gärt es stark unter den Kolonialvölkern und kommt es zu einer merklichen Linksschwenkung der proletarischen Massen in Europa (die englischen Ereignisse, Tag der Roten Frontkämpfer in Deutschland, Wien usw.). Dieser Prozeß der Festigung des Kapitalismus geht im Rahmen der allgemeinen Nachkriegs-Desorganisation der Weltwirtschaft vor sich, ruft immer neue und schärfere Widersprüche innerhalb des kapitalistischen Systems hervor und steigern damit zugleich die imperialistischen Tendenzen aufs äußerste. Daher sind die sogenannte „russische" und die „chinesische" Frage für den internationalen Imperialismus die brennendsten Fragen der Politik. Der sich stabilisierende europäische Imperialismus ist an diesen Fragen auf zweierlei Weise interessiert: sowohl an der wirtschaftlichen Expansion (Märkte, Sphären für Kapitalanlagen, Rohstoffquellen) als auch an einem Präventivkrieg gegen die Revolution. (....)

6. Die Vorbereitung des Krieges gegen die UdSSR bedeutet nichts anderes als die Wiederaufnahme des Klassenkampfes zwischen der imperialistischen Bourgeoisie und dem siegreichen Proletariat auf erweiterter Grundlage. Dies eben wird vom Klassenstandpunkt aus der Sinn dieses Krieges sein. Bei jedem, der - wie die Opposition in unserer Partei - diesen Charakter des Krieges bezweifelt oder gar die Wurzeln des Überfalles auf die UdSSR nicht im Wachstum des in Aufbau befindlichen Sozialismus in der UdSSR und dem revolutionierenden Einfluß der letzteren sieht, sondern umgekehrt im „National-Reformismus" der proletarischen Partei, offenbart sich eine sozialdemokratische Abweichung, die in der gegenwärtigen internationalen Lage doppelt schädlich ist und objektiv den Feinden des Proletariats hilft.

7. Das System der diplomatischen und Militärbündnisse gegen die UdSSR, das auf der Linie der sogenannten „Einkreisung" der UdSSR liegt (polnisch-rumänischer Vertrag, jugoslawisch-polnischer, tschechoslowakisch-polnischer, italienisch-rumänischer usw.; die Tätigkeit Englands in den baltischen Ländern, in Polen, im Fernen Osten und in Persien; der „Druck" auf Deutschland, der besonders in Locarno begann und mit den letzten Versuchen der Schaffung eines antisowjetischen Blockes in Genf abschließt; der Überfall auf die Arcos, der Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit der UdSSR; der verstärkte Druck auf Frankreich, um den Bruch mit der UdSSR herbeizuführen, der gleiche Druck auf Italien, Griechenland usw.; der besonders in der letzten Zeit zunehmende Druck auf Deutschland), ist die charakteristischste Tatsache des gegenwärtigen Augenblickes.

In Vorbereitung des Krieges gegen die UdSSR und gegen die Arbeiterklasse ihres eigenen Landes führt die englische konservative Regierung überall einen diplomatischen Kampf gegen die UdSSR, organisiert die wirtschaftliche und Kreditblockade der UdSSR, Verschwörungen und terroristische Akte auf dem Territorium der Sowjetunion, unterstützt die konterrevolutionären Gruppierungen im Kaukasus, besonders in Georgien, in der Ukraine, usw. usf..

Gleichzeitig ergreift eine Reihe kapitalistischer Staaten verstärkte Maßnahmen zur Vorbereitung des Hinterlandes (Gesetze Mussolinis gegen die Arbeiter und Terror gegen die Kommunisten in Italien; Bill gegen die Gewerkschaften, „Sefora"-projekt des Oberhauses in England; Militärgesetze des „Sozialisten" Paul Boncour und die Kommunistenverhaftungen in Frankreich usw. usf). Die ideologische Vorbereitung des Krieges gegen die UdSSR übernimmt zugleich mit der Bourgeoisie auch die sogenannte internationale Sozialdemokratie zusammen mit den „ultralinken" Renegaten des Kommunismus: größtmögliche Diskreditierung der UdSSR als Staat; verleumderische Hetze über Entartung, Kulakenpolitik (Lewy) und Bonapartismus; Geschrei über den „roten Imperialismus", über die angebliche kriegstreiberische Rolle der UdSSR, die an der Störung des Friedens „schuld" sei, der sorgfältig vom Völkerbund „gehütet" wurde (siehe z.B. die Position Bauers, die Marseiller Resolutionen der II. Internationale, die „Granatenkampagne", den jüngsten Antrag der finnischen sozial-demokratischen Regierung an den Völkerbund usw.) - alles das soll der Verschleierung und Rechtfertigung des Klassenkrieges der imperialistischen Bourgeoisie gegen den proletarischen Staat dienen und die Arbeiter Europas von der Erfüllung ihrer proletarischen Pflicht ablenken, die UdSSR mit allen Mitteln zu verteidigen. Unter diesen Bedingungen ist die Propaganda der Opposition der KPdSU (B) besonders verlogen und verbrecherisch...

Quelle: Die Kommunistische Partei der Sowjetunion in Resolutionen und Beschlüssen der Parteitage. Konferenzen und Plenen des ZK. Bd. VI, Berlin 1957, S. 228 - 232.